Über 200.000 Jüdinnen und Juden lebten im frühen 20. Jahrhundert in Wien. Nach Verfolgung, Mord und Zerstörung war 1945 von der einst lebendigen Gemeinde nicht mehr viel übrig geblieben. In einem der wenigen nicht zerstörten jüdischen Gebäude im 2. Bezirk befand sich das größte jüdische Ritualbad Wiens. Trotzdem wurde das Haus vor kurzem ohne größeres Aufsehen einfach abgerissen. Dabei hätte die Stadt es schon vor Jahren nachhaltig schützen können.
Seltenes Zeugnis aus dem alten jüdischen Wien
Wenige Schritte entfernt vom Donaukanal und in der Nähe des bekannten Schützenhauses von Otto Wagner liegt die kleine Floßgasse. Hier reihen sich hohe Jahrhundertwendehäuser mit reichem Stuck und schlichte Gemeindebauten aus den 1950ern aneinander. Es ist eine der wenigen Gegenden der Stadt, in denen auch heute noch jüdisches Leben sichtbar ist.
Bis vor kurzem hat sich auf Nr. 14 noch ein Gründerzeithaus mit ganz besonderer Geschichte befunden. Es stammte aus einer Zeit, als noch etwa jeder zehnte Wiener jüdischen Glaubens war und alleine auf der „Mazzesinsel“ über 60.000 Juden lebten. Entsprechend hoch war die Dichte an jüdischen Vereinen, Bethäusern und Synagogen. Auch das Ritualbad – die sogenannte Mikwe – in der Floßgasse 14 gehörte dazu.
Diese speziellen Bäder sind seit dem 1. Jahrhundert n. Chr. archäologisch bezeugt. Sie dienen der Herstellung ritueller Reinheit nach den Regeln der Torah (5 Bücher Mose). Durch das Wachstum der jüdischen Bevölkerung im Wien der Jahrhundertwende entstand bald die Notwendigkeit für eine neue Mikwe.
Der Bau in der Floßgasse wurde von der Israelitischen Kultusgemeinde in Auftrag gegeben. Ziel war die Errichtung einer „den modernsten Anforderungen entsprechenden, großen hygienischen Badeanstalt“, wie die Neue Freie Presse 1908 berichtete (siehe unten).
Als Architekt fungierte Oskar Marmorek, der in Wien auch Gebäude wie den Nestroyhof und Rüdigerhof plante. 1909 öffnete die Mikwe ihre Pforten. Für Frauen und Männer waren eigene Besuchszeiten eingerichtet. Bedürftige konnten die Einrichtung sogar kostenlos nutzen. Noch 1937, ein Jahr vor dem „Anschluss“ Österreichs an Hitler-Deutschland, hatte das Gebäude regulär geöffnet:
Pogrom und Krieg überstanden
Mit dem Ende der 1. Republik steigerte sich der schon lange grassierende Antisemitismus zu offener Gewalt. Beim Novemberpogrom wurden 1938 unzählige jüdische Geschäfte und Synagogen zerstört – die Mikwe aber blieb verschont und war auch den ganzen 2. Weltkrieg über in Betrieb. Während der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus nutzten sie viele Juden als Waschgelegenheit, da es in den völlig überfüllten Sammelquartieren häufig nicht einmal fließendes Wasser gab. Im Fall von zumindest zwei Bewohnern des Gebäudes ist der vom NS-Staat veranlasste Raub von Eigentum dokumentiert. Acht Personen, die in den Wohnungen über der Mikwe wohnten, wurden in der NS-Zeit ermordet.
Als eines der wenigen, weitgehend unversehrten jüdischen Gebäude Wiens war die Mikwe noch zumindest bis in die späten 1940er geöffnet. Danach diente sie als Lager und Werkstatt eines Möbelrestaurators. Die einstige Bedeutung des Gebäudes geriet in Vergessenheit und wurde erst durch die 2018 begonnenen Abrissarbeiten schlagartig wieder ins öffentliche Bewusstsein gerufen. Doch da war es bereits zu spät.
Schutzzone hätte Abriss verhindert
Historische Gebäude wie jenes in der Floßgasse können vor dem Abbruch bewahrt werden, wenn die Stadt Wien eine Schutzzone festlegt. Auch in der Leopoldstadt gibt es einige Schutzzonen, die jedoch nur einen kleinen Teil des historischen Häuserbestandes erfassen (siehe Plan unten).
Die Gelegenheit, auch die Floßgasse in die Schutzzone aufzunehmen, bot sich bereits im Jahr 2004, als der Flächenwidmungsplan aktualisiert wurde. Genutzt wurde diese Möglichkeit aber nicht. Der Grund dafür ist unbekannt.
Die Schutzzone hätte das Gebäude in Floßgasse 14 und auch andere Häuser wahrscheinlich vor dem Abbruch bewahrt. Wie virulent das Problem der fehlenden Schutzzonen im 2. Bezirk ist, zeigte sich bereits 2008 bzw. 2014, als die Gründerzeithäuser Obere Donaustraße 61 und 67A demoliert wurden.
Gesetz kommt zu spät: "Kunsthändler" lässt abreißen
Im April 2018 kündigte die rot-grüne Rathauskoalition eine Verschärfung der Bauordnung an. Damit sollen historische Gebäude besser vor Abrissen und „Spekulation“ geschützt werden. Eine jahrelange Forderung von Denkmalschützern wurde damit umgesetzt. Doch die Ankündigung hatte einen Nebeneffekt: Wer jetzt noch schnell seinen Altbau loswerden wollte, musste sich beeilen. Eine Abrisswelle folgte. Dutzende historische Gebäude in ganz Wien fielen binnen kurzer Zeit den Abbruchmaschinen zum Opfer. Daraufhin zog die Koalition das Gesetz kurzerhand vor. Der Beschluss erfolgte Ende Juni 2018 mit den Stimmen von SPÖ, Grünen und FPÖ. ÖVP und NEOS stimmten dagegen.
Zu diesem Zeitpunkt war das Gebäude der Mikwe in der Floßgasse bereits erheblich demoliert. Nach der Gesetzesänderung stoppte die Baupolizei den Abriss. Das Gebäude wurde geprüft und bald für erhaltenswert befunden. Doch der Eigentümer – ein Kunsthändler – reichte Klage ein und gewann. Anfang 2019 hob das Gericht den Baustopp auf. Der Abriss durfte weitergehen bis auch die Räume der ehemaligen Mikwe im Erdgeschoß vollständig unter Schutt versanken.
Entsetzt über den Abriss zeigt sich die Historikerin Shoshana Duizend-Jensen im Gespräch mit dem Standard:
Sogar im Novemberpogrom [im Jahr 1938] kam es zu keiner Inbrandsetzung, nun soll diese Institution aber zerstört werden.
Was mich dabei so bewegt, ist, dass es auch 2019 noch immer passiert, dass wichtige Zeugnisse jüdischen Lebens ohne vorherige Erinnerung und ohne Bewusstsein der Geschichte zerstört werden.
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(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
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