Das Gebäude der Sozialversicherung der Selbständigen in der Wiedner Hauptstraße wurde umgebaut. Dabei ist die charakteristische Fassadengestaltung der 1970er-Jahre verloren gegangen.
Sozialversicherungskomplex
Einen Schönheitspreis wird das Bürohaus der SVS in der Wiedner Hauptstraße wohl nicht gewinnen. Durch seine Höhe, Masse und die Nähe zur Kirche St. Thekla setzt es sich deutlich von der Silhouette von 4. und 5. Bezirk ab. Der Bau verhältnismäßig hoher Häuser mitten in der Stadt ist für die 1950er bis 1970er typisch. Das kann als selbstbewusstes Auftreten der neuen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gedeutet werden. Oder als Gleichgültigkeit gegenüber dem Bestand.
Das Bürohaus der SVS ist mit seinem Volumen seit den 1970ern unverändert. Neu ist aber die Fassadengestaltung, die der Umbau von 2019 hervorgebracht hat.
1970er-Jahre-Architektur
Nun ist es also soweit: WienSchauen widmet sich der Architektur der 1970er-Jahre. Fast sechzig Jahre nach dem Ende der Gründerzeit und vierzig Jahre nach der Zwischenkriegszeit setzte sich ein bisweilen harter – kühner?, rücksichtsloser? – Modernismus durch, der auch Gebäude hervorbrachte, derer einige unter die Rubrik Brutalismus fallen (Beispiel: Wotruba-Kirche im 23. Bezirk). Einige Bauten aus jener Zeit wurden bereits wieder abgerissen.
Das Bürohaus in der Wiedner Hauptstraße 84-86 wurde von 1969–1973 erbaut, entworfen vom Architekten Johann Pleyer. Das Architektenlexikon nennt als Planer Carl Appel. Das Gebäude setzt sich aus mehreren ineinandergefügten Teilen zusammen: Ein niedriger vorgelagerter Bauteil führt die gründerzeitliche Baulinie der Wiedner Hauptstraße weiter. Der in zwei Teile gegliederte höhere Aufbau erzeugt eine Ecke und Abstufung, die nur auf den ersten Blick willkürlich erscheinen. Denn eine ebensolche Ecke samt unterschiedlichen Höhen findet sich bei der nebenliegenden Kirche und dem daran angeschlossenen Schulgebäude (Foto unten). So reagiert das Gebäude in seiner Wucht doch auf die Umgebung. Wenn auch merklich verkopft.
Charakteristisch und modern sind die durchgängigen Fensterbänder (eine schon in der Zwischenkriegszeit beliebte Anordnung) und die Fassadenplatten. So ist bei genauerem Hinsehen zu erkennen, dass das Gebäude keineswegs als schlichter Nutzbau errichtet worden ist.
Johann Pleyer (1937–2001) studierte an der Akademie der bildenden Künste Wien, wo er die Meisterklasse von Roland Rainer besuchte. Ab 1969 war er als selbstständiger Architekt tätig und nahm an zahlreichen Wettbewerben teil. Er konnte mehr als 200 Projekte realisieren, sowohl Wohn-, Schul-, Kirchen- und Sozialbauten als auch Industrie- und Gewerbebauten. In Wien wurde neben zahlreichen Einfamilienhäusern und dem Oblatenkloster unter anderem auch das Gebäude der Sozialversicherungsanstalt in Wien 4, Wiedner Hauptstraße 84-86 (1969) nach seinen Plänen errichtet.
Umbau: Ästhetische Verschlechterung?
Gebäude wie jenes der SVS werden abgesehen von Architekturinteressierten und Experten wohl nicht allzu viele Freunde finden. Auch wenn mit dieser Ästhetik heute im historisch gewachsenen Umfeld nicht mehr gebaut werden sollte, heißt das nicht, dass alle Gebäude der späten Nachkriegszeit wertlos sind. Alleine aus Ressourcengründen ist ein schonender Umgang erforderlich. Doch auch in Hinblick auf das äußere Erscheinungsbild sind viele Bauten jener Zeit nicht zu unterschätzen.
Vielleicht wird die Bedeutung erst dann bewusst, wenn es diese Gebäude nicht mehr gibt. Oder wenn sie tiefgreifend umgebaut wurden, wie jenes in der Wiedner Hauptstraße. Von der alten Fassade ist nämlich seit 2019 nichts mehr zu sehen. Der Umbau samt kompletter Sanierung wurde von den Architekturbüros ATP und Hinterwirth geplant. In technischer Hinsicht waren Umbau und Modernisierung sicherlich unumgänglich. Aber musste unbedingt auch die Fassade verändert werden?
Die Aluminiumfassade mit den zurückversetzten Fenstern wurde durch braune Platten ersetzt. Die Fassade ist geglättet und hat dadurch ihre Signifikanz eingebüßt. Über das ganze Gebäude sind nun weiße Rahmen gespannt, die wohl als eine Art Dekor dienen sollen. Die klassische Funktion des Dekors als Mittel zu Schönheit und Gliederung wird dadurch nicht erreicht. Überdies stört der neu hinzugefügte gläserne Aufbau ein wichtiges Charakteristikum des Gebäudes: Aus dem aus zwei unterschiedlichen Höhen zusammengesetzten Gebäudeteil wird ein fast einheitlich hoher. Eine bessere Einpassung in die Umgebung ist durch den Umbau auch kaum erreicht worden.
Wenn im Zuge der Planungen die Einschätzung überwogen hatte, dass das Gebäude in seiner äußeren Gestaltung nicht erhaltenswert ist, warum wurde dann nicht eine nachhaltig attraktive Neufassadierung betrieben? Zum Beispiel mit Klinker (Backstein) samt dahinterliegender Dämmung? Durch Klinker lässt sich eine zeitlose Optik erreichen, die neue und alte Elemente vereint und sehr schmuckvoll sein kann (Beispiel: Rüdengasse 7-9). Der Baustoff ist langlebig und wirkt auch noch alt und verwittert ansehnlich.
Architektur nach 1945: Unterschätzte Eleganz
Welche Gebäude sind erhaltenswert, welche können weg? Bei vor dem Zweiten Weltkrieg erbauten Häusern wird die Meinung wahrscheinlich meist in Richtung Erhalt gehen. Auch wenn bei weitem nicht jedes Haus aus dieser Zeit ein Denkmal ist, wird doch die Wirkung auf das Stadtbild meist als positiv zu werten sein. Ganz abgesehen vom Wert für die Bewohner und hinsichtlich der Frage der „grauen Energie“ (die in Gebäuden gespeicherten Ressourcen).
Doch auch nach 1945 wurde interessant gebaut. Der Schutz solcher Gebäude ist in Wien aktuell nur via Denkmalschutz möglich. Doch Denkmalschutz wird nur selten gewährt, oft kommt er zu spät. So konnte etwa eine in den 1960ern erbaute Fabrik in Aspern ungehindert abgerissen werden:
Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurde oftmals noch konservativ geplant – im Sinne eines zurückhaltenden und an den älteren Bestand angepassten Weiterbaus. Das hat sich danach zwar stark geändert. Trotzdem sind zu allen Zeiten interessante Bauwerke entstanden.
Schutz für jüngere Häuser nötig
Viele Gebäude aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind in ein Alter gekommen, wo Umbau und Abriss aktuell werden. Es ist wichtig, mit der Architektur nach 1945 nicht denselben Fehler zu machen wie mit der Gründerzeitarchitektur, der früher einfach durch die Bank der Wert abgesprochen wurde.
2012 wurde eine Studie vorgestellt, in der eine Methodik zur Bewertung der Architektur zwischen 1945 und 1979 ausgearbeitet wurde. Beteiligt waren Experten aus Wien und Brünn. In Wien waren BWM Architekten, Barbara Feller, Jan Tabor und Wehdorn Architekten dabei. Zur Methodik erklären die Studienautoren:
Anders als etwa bei Biedermeier oder Gründerzeit erschließen sich die Architekturqualitäten dieser unter unterschiedlichen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen entstandenen Gebäude aus der gegenständlichen Periode nicht auf den ersten Blick und sind in der öffentlichen Wahrnehmung oft sogar negativ besetzt. Dies liegt einerseits daran, dass die Bauwerke mit einem Baualter von ca. 50 Jahren zu jung sind, um einen entsprechenden Alterswert beigemessen zu bekommen, andererseits ermöglichten neue Bautechnologien in dieser Zeit einen experimentellen Umgang mit Konstruktionen, Bauformen und Bauteilen, sodass die gewohnte einfache Grammatik, die sogar noch für die verhältnismäßig homogene Architektur bis zur Zwischenkriegszeit anwendbar ist, sich in den meisten Fällen nicht auf die heterogene Nachkriegsarchitektur übertragen lässt (…)
Unter den geschilderten Rahmenbedingungen wird mit der gegenständlichen Methodik einerseits eine systematische Erfassung der Gebäude gewährleistet und andererseits ein Analysesystem entwickelt, das eine nachvollziehbare Bewertung der erfassten Bauwerke und ihrer spezifischen Qualitäten ermöglicht und auch – rechtzeitig vor der Zerstörung – noch kommende Wertvorstellungen antizipiert (…)
Solange es aber kein Gesetz gibt, das den Erhalt von Nachkriegsarchitektur ermöglicht, war all die Mühe vergebens. Das wiederum heißt nicht zwangsweise, dass die Fassade der in diesem Artikel besprochenen SVS so herausragend war, dass sie unbedingt erhalten hätte bleiben müssen. Aber zumindest eine fachliche Prüfung wäre vor dem Umbau sicher sinnvoll gewesen. Umbau und Sanierung können auch den Erhalt charakteristischer Gebäudeteile inkludieren, ohne dass die technische Modernisierung unterbleiben muss.
Eine Lösung für Wien könnte sein, dass ab einem gewissen Baualter (z. B. 40 Jahre) vor Abbrüchen und Umbauten verpflichtend eine Genehmigung einzuholen ist, ob das für das Stadtbild verträglich ist oder nicht. Dafür braucht es eine Novelle des Wiener Baurechts.
Kontakte zu Stadt & Politik
- SPÖ: kontakt@spw.at, Tel. +43 1 535 35 35
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- Die Grünen: landesbuero.wien@gruene.at, Tel. +43 1 52125
- NEOS: wien@neos.eu, Tel. +43 1 522 5000 31
- FPÖ: ombudsstelle@fpoe-wien.at, Tel. +43 1 4000 81797
(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
Fotos, Infos
- SVS Headquarter Wien auf nextroom.at (Beschreibung des Umbaus von 2018-2019)
- Zitat aus: Brutalismus in Wien: Johann Pleyers Oblatenkloster St. Paul, Wien 13 (Architekturzentrum Wien)
- Strategien zum Umgang mit einem (noch) ungeliebten Erbe. Bewertungsmethodik der Architektur nach 1945, in: Konstruktiv 278, Zeitschrift der Bundeskammer der Architekten und Ingenieurkonsulenten, September 2012, S. 19-22.
- Carl Appel im Architektenlexikon
- Fotos SVS (2009): János Korom Dr. from Wien, Austria, Wien 057 (4052814201), Wien04 (77) (3186674945), CC BY-SA 2.0
- Foto SVS (2016): C.Stadler/Bwag, Wieden (Wien) – Piaristenkloster, CC BY-SA 4.0
- Foto Westbahnstraße 1: Rosso Robot, 2020-05-30 Gemeindebau Westbahnstraße 1 construction site, CC BY-SA 4.0
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