Gürtel: Historische Kuppel demontiert!

Ein rasanter Wandel vollzieht sich am Wiedner Gürtel. Während der Verkehr lautstark über die bis zu acht Spuren breite Straße brettert, werken im angrenzenden 10. Bezirk seit Jahren die Bauarbeiter: Der Hauptbahnhof, die Zentrale der Erste Bank, neue Bürohäuser und Hotels, Hochhäuser, ein Einkaufszentrum und immer noch jede Menge Baustellen. Der triste Charme des alten Südbahnhofs ist passé. Heute geben Stahl, Glas und kühler Rationalismus den Ton an.

Diese Entwicklung ist auch an der „alten“ Seite des Gürtels – hier liegt der 4. Bezirk – nicht spurlos vorübergegangen. Beispielsweise an der Ecke Argentinier Straße, wo seit kurzem ein großvolumiger Dachausbau ein altes Gründerzeithaus förmlich erdrückt. Ganz nebenbei wurde dabei auch ein altes Türmchen entfernt.

drei Aufnahmen desselben Gebäudes in Wien-Wieden, Ecke Argentinierstraße
Wiedner Gürtel 18 um 1900, 2017, 2019

Viele Gründerzeithäuser im Krieg zerstört

Der Wiedner Gürtel ist bzw. war ein Musterbeispiel für die Architektur der Gründerzeit: Aufwändige Fassaden, Ornamente, Erker, formschöne Kuppeln, und im Erdgeschoß Geschäfte und Lokale. Die meisten Gebäude stamm(t)en aus der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts.

alte Aufnahme der Häuser Wiedner Gürtel 18 und 20, Argentinierstraße, Wien, Elisabethkirche, schwarz-weiß, Personen, Gründerzeit
Wiedner Gürtel im Originalzustand der Gründerzeit, rechts Wiedner Gürtel 18 mit Kuppel (Foto: Ansichtskarte, Privatbesitz)

Heute ist nur noch ein Bruchteil der ursprünglichen Bebauung vorhanden. Bedingt durch die Nähe zum alten Südbahnhof waren hier im Verlauf des 2. Weltkriegs besonders viele Bombentreffer zu verzeichnen. Zahlreiche Häuser wurden zerstört oder schwer beschädigt.

Historische Kuppel demontiert

Von diesem Schicksal blieb das alte Eckhaus am Wiedner Gürtel 18 verschont. Fast 140 Jahre hatte es sich weitgehend in seinem Originalzustand erhalten – bis 2018. Denn beim Bau eines kürzlich fertiggestellten Dachgeschoßausbaus wurde die historische Kuppel einfach demontiert. Wie das ganze Haus stammte sie noch aus dem Jahr 1876. Die Kuppel fand sogar im Architektenlexikon Erwähnung:

Das Eckhaus (…) Wiedner Gürtel 18 (…) erhielt eine ausgeprägte, kuppelbekrönte Rundung.

historische Kuppel am Gebäude Wiedner Gürtel 18 kurz vor der Demontage, Wien-Wieden, 2017
Dezember 2017: Kuppel vor der Demontage (rechts)

Das Immobilienunternehmen, das dieses Gebäude entwickelte, schrieb dazu u.a.:

Das bestehende Gebäude wird mit einem dreigeschoßigen Aufbau erweitert, der als Hybrid aus Stahlrahmen und Holzbauelementen besteht.

Gründerzeitliche Gebäude weisen häufig eine dreigliedrige Ordnung auf: Sockel, Schaft und Kapitell. Diese Struktur wird durch die Erweiterung aufgegriffen und zusätzlich verstärkt (…)

Ästhetischer Totalschaden

Der riesige Dachausbau ist nicht unbemerkt geblieben. Als „ästhetischen Totalschaden“ bezeichnete der Journalist Bernhard Baumgartner das Projekt auf seiner Facebook-Seite; desweiteren:

Schöner kann man zu Wien nicht ‚Geh scheißen!‘ sagen. Wieso so etwas genehmigt wird ist mir schleierhaft.

Die für Architektur zuständige Magistratsabteilung antwortete der Tageszeitung Heute zu diesem Fall:

Viele wollen wissen, warum der Aufbau genehmigt wurde. „Das Projekt hält die Vorgaben des Bebauungsplans ein und liegt in keiner Schutzzone“, klärt die MA 19 auf. „Die umliegenden Gebäude sind sehr unterschiedlich gestaltet.“ Man könne daher nicht von einer Störung des Stadtbildes sprechen.

Haben die Behörden also die Entfernung der Kuppel genehmigt? Oder gab es keine rechtliche Handhabe, um die Demontage zu verhindern?

Die vielleicht wichtigere Frage ist aber, warum Eigentümerfirmen auf solch grobe Weise mit ihren Häusern umgehen. Zählt einzig und allein die Flächenmaximierung? Gibt es nicht eine gewisse Verantwortung gegenüber dem baukulturellen Erbe?

Dachausbau am Gebäude Wiedner Gürtel 18, nach Demontage der historischen Kuppel
Wiedner Gürtel 18 nach Demontage der Kuppel und Errichtung des Dachausbaus (Foto: Jänner 2019)

Keine Schutzzone

Die Stadt Wien kann historische Gebäude durch Schutzzonen vor Abriss und groben Veränderungen bewahren. Trotzdem wurden bei der letzten Planänderung im Jahr 2007 am Wiedner Gürtel keine Schutzzonen gewidmet. Dabei war beispielsweise die Bedeutung des Gebäudes am Wiedner Gürtell 18 schon zumindest seit zumindest 1999 bekannt.

Dieser Bebauungsplan, einschließlich der fehlenden Schutzzone, erhielt damals die Zustimmung von SPÖ, ÖVP und FPÖ. Die Grünen stimmten dagegen. Ob den Gemeinderäten bewusst war, dass in diesem Plan eine Schutzzone für den Wiedner Gürtel fehlte?

Lediglich das alte Gebäude der k.k. Südbahngesellschaft (Wiedner Gürtel 12) liegt in einer Schutzzone – was gar nicht notwendig wäre, steht es doch ohnehin unter Denkmalschutz. Zu spät kam ein ÖVP-Antrag auf mehr Ensembleschutz für den Wiedner Gürtel im Dezember 2017. Trotz breiter Zustimmung in der Bezirksvertretung ließ sich das Türmchen am Eckhaus nicht mehr retten.

Hohe Bauklasse setzt Gründerzeithäuser unter Druck

Die Anzahl der vorhandenen bzw. maximal erlaubten Geschoße entscheidet maßgeblich, wie viel eine Liegenschaft wert ist. Steht ein kleineres Gebäude auf einem Grundstück, an dem eigentlich höher gebaut werden darf, wird es zu wirtschaftlichem Druck kommen. Genau das ist am Wiedner Gürtel mehrfach passiert. Zwei Gründerzeithäuser (Wiedner Gürtel 16 und 22) fielen in den letzten Jahren den Abrissbaggern zum Opfer. Eines davon befand sich dort, wo heute ein neues Hotel mit riesigen runden Fenstern und spiegelglatter Fassade für den vielleicht größtmöglichen stilistischen Bruch sorgt (siehe Foto unten).

Jänner 2019: Dachausbau statt Kuppel (Mitte), Hotelneubau statt Gründerzeithaus (rechts)

Auch der Dachausbau am Haus Wiedner Gürtel 18 ist der hohen Bauklasse geschuldet. Eine rechtzeitige Anpassung des Bebauungsplans an die historischen Gebäude hätte die Abrisse und die massive Aufstockung wahrscheinlich verhindert. So ist zu befürchten, dass es das gegenüberliegende Eckhaus auf Nr. 20 als nächstes treffen könnte. Zumindest eine Kuppel kann dabei nicht demoliert werden – das dürfte schon der 2. Weltkrieg erledigt haben.

Kontakte zu Stadt & Politik

+43 1 4000 04114
 
Die Bezirksvorstehungen sind die politischen Vertretungen der einzelnen Bezirke. Die Partei mit den meisten Stimmen im Bezirk stellt den Bezirksvorsteher, dessen Aufgaben u.a. das Pflichtschulwesen, die Ortsverschönerung und die Straßen umfassen.

Die Bezirksvertretungen sind die Parlamente der Bezirke. Die Parteien in den Bezirksvertretungen werden von der Bezirksbevölkerung gewählt, meist gleichzeitig mit dem Gemeinderat. Jede Partei in einem Bezirk kann Anträge und Anfragen stellen. Findet ein Antrag eine Mehrheit, geht er als Wunsch des Bezirks an die zuständigen Stadträte im Rathaus. (Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Sitze in der Bezirksvertretung im November/Dezember 2020.)

+43 1 4000 81261
 
Vizebürgermeisterin und Stadträtin Kathrin Gaál untersteht die Geschäftsgruppe Wohnen. Zu dieser gehören u. a. die Baupolizei (kontrolliert die Einhaltung der Bauvorschriften u. dgl.), Wiener Wohnen (Gemeindewohnungen) und der Wohnfonds (Fonds für Neubau und Sanierung).

(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

Quellen und weitere Infos

WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum.

Wenn Sie mir etwas mitteilen möchten, können Sie mich per E-Mail und Formular erreichen. WienSchauen hat auch einen Newsletter:

Nach der Anmeldung erhalten Sie ein Bestätigungsmail.