Verschwundener Wandschmuck

Favoriten boomt. Seit der Eröffnung des neuen Hauptbahnhofs wird allerorten gebaut, saniert und abgerissen. Ganze Stadtteile werden förmlich aus dem Boden gestampft. Mitten darunter hatte ein großes Kunstwerk die Jahrzehnte überdauert. 2017 wurde das fünf Geschoße hohe Sgraffito zerstört. Konsequenzen gibt es bis heute keine.

"Favoritens Geschichte": 2017 wurde das Sgraffito aus den 1950ern zerstört

Favoriten in rasendem Wandel

Im Sonnwendviertel, nur wenige Minuten vom neuen Hauptbahnhof entfernt, wird augenscheinlich, wie sehr sich der 10. Bezirk verändert hat: Wo noch vor wenigen Jahren aufgelassene Gleise und alte Lagerhallen das Stadtbild prägten, ragen heute die Wohnbauten des Sonnwendviertels in die Höhe.

Zwischen dem alten und neuen Favoriten verläuft die Sonnwendgasse. Die 2014 auf bis zu vier Spuren verbreiterte Straße scheint schon heute nicht mehr zeitgemäß, wo doch Begrünung, Lärmschutz, Öffis und Schutz vor Hitze hoch im Kurs stehen. Die Stadtregierung hat eine dauerhafte Barriere mitten in den Bezirk gebaut.

Auch die durchwegs in Grautönen gehaltenen Neubaufassaden (siehe Fotos) vermögen das Gesamtbild kaum aufzulockern.

Favoriten zwischen Alt (links) und Neu (rechts) (Karte ©ViennaGIS)

Kunstwerk aus den 1950ern zerstört

Im alten Teil der Sonnwendgasse liegt auch das Haus Landgutgasse 1, ein typischer Nachkriegsbau mit schlichter Lochfassade und zurückversetztem Dachgeschoß, Baujahr 1956. Solche Wohnhäuser gibt es viele im alten Favoriten. Und doch ist dieses Haus etwas Besonderes.

Landgutgasse 1: An der Ecke befand sich bis 2017 das Kunstwerk

Seit einer Renovierung hebt sich das dreiseitige Eckhaus von den grauen und braunen Fassaden der Umgebung merklich ab. Auch ein frisch gestrichenes zweifärbiges Muster sticht ins Auge. Genau hier befand sich das Sgraffito „Favoritens Geschichte“. 2017 ist es unter einer Wärmedämmung verschwunden – und vielleicht sogar zerstört worden.

Kunst am Bau statt kahle Mauer

Auf dem Sgraffito stellte der unbekannte Künstler holzschnittartig die Geschichte Wiens und Favoritens im typischen Stil der 1950er dar. Neben dem Arsenal (Heeresgeschichtliches Museum) ist auch ein bekanntes Wahrzeichen des 10. Bezirks zu sehen: Die Spinnerin am Kreuz, eine Steinsäule im gotischen Stil aus dem 15. Jahrhundert.

Das Sgraffito gehört zur Tradition der Kunst am Bau, die in Wien bis in die 1920er zurückgeht. Um Wohnbauten ästhetisch aufzuwerten, wurden noch bis in die 2. Republik hinein u.a. Hauswände mit Mosaiken, Fresken, Plastiken und Malereien geschmückt. Vor allem auf Gemeindebauten finden sich solche Kunstwerke. Heute ist Kunst am Bau seltener geworden. Ein prominentes Beispiel – ein Gemälde von Hermann Nitsch – findet sich an einer Hauswand im 2. Bezirk. In jüngerer Zeit bereichern auch großflächige Graffiti-Kunstwerke das Stadtbild.

Kahle Mauer statt Kunst am Bau

Doch zurück zum zerstörten Sgraffito: Kunstwerke im öffentlichen Raum sind in Wien im Kulturgut-Stadtplan erfasst. Doch bei der Adresse Landgutgasse 1 fehlt der Eintrag. Haben die Behörden das Kunstwerk nie registriert?

Auffällig ist zudem, dass das Haus bereits vor 2015 einen neuen Anstrich samt Dämmung bekommen hatte, mit Ausnahme jener Fläche, auf der sich das Kunstwerk befand (siehe Foto unten). Erst 2017 ist auch der Mittelteil gestrichen und damit das Sgraffito zerstört worden. Ein Zufall? Oder musste erst um Genehmigung angesucht werden? Wenn ja, wurde diese tatsächlich erteilt? Oder hat hier jemand einfach Tatsachen geschaffen?

Links: Landgutgasse 1 mit Sgraffito im Jahr 2015 (Foto: Braveheart, CC BY-SA 4.0)

Fall seit 2017 bekannt

Darf ein Hauseigentümer oder eine Baufirma ein Kunstwerk einfach entfernen? Braucht es für Änderungen an der äußeren Gestalt eines Gebäudes nicht die Zustimmung der Magistrate? Waren die Behörden in die Renovierung überhaupt irgendwie eingebunden?

Bereits 2017 hat der Verfasser dieses Artikels die Bezirksvorstehung um Aufklärung gebeten. Die Antwort: Das Anliegen sei an die zuständigen Magistratsabteilungen weitergeleitet worden. Mehr Informationen gab es nicht.

Keine Konsequenzen

Seither ist nichts passiert. Auch zwei Jahre später ist das Sgraffito nicht wiederaufgetaucht. Einzig eine Autorin auf meinbezirk.at hat das Verschwinden des Kunstwerks registriert. Während die neuen Wohnbauten, der Ausbau der Straßenbahnen und der Hauptbahnhof die Medien regelmäßig beschäftigt haben, wurde auf das kleine Relikt aus der Zeit der Wiederaufbaus einfach vergessen.

Endlich Aufklärung?

Im August 2019 sind die zuständigen Magistratsabteilungen direkt verständigt und auf den Fall aufmerksam gemacht worden. Doch was nun unternommen wird bzw. was rechtlich überhaupt noch getan werden kann, ist unklar. Ob das Kunstwerk doch nur unter dicken Dämmplatten darauf wartet, wiederentdeckt zu werden?

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