Das 2018 erbaute Wohnhaus ist ein für Wien untypischer Neubau. Die abwechslungsreiche und hochwertige äußere Gestaltung mit einer Klinkerfassade reagiert auf die Umgebung und auf ältere Architektur.
Klinker trifft Symmetrie
Seit 2018 berichtet WienSchauen über die Wiener Neubauarchitektur. Im Fokus stehen häufig Gebäude, die durch banale äußere Gestaltung, fehlende Bezugnahme auf die Umgebung und tote Erdgeschoßzonen auffallen. Doch bei weitem nicht alle Neubauten fallen unter diese Kategorie.
In der Nähe des Kardinal-Nagl-Platzes im 3. Bezirk wurde 2018 ein Wohnhaus errichtet, dessen Architektur sich deutlich vom sonst in Wien üblichen Standard absetzt. Das große dreiseitige Gebäude umfasst 126 Wohnungen, im Erdgeschoß ist Platz für Geschäfte, im Inneren befindet sich ein Hof. Das ganze Gebäude durchzieht ein klar erkennbarer Rhythmus.
Geplant wurde das Gebäude von Josef Jakob von der Architekturabteilung der Immobilienfirma ÖRAG. Auftraggeber war die Firma Aliqua Immobilien. Die Klinkersteine wurden vom Österreichischen Klinker Kontor angefertigt und angebracht. Auf der Webseite des Klinkerunternehmens ist zu lesen:
Es wurde ein Klinker entwickelt, der die Farbinspirationen der historischen Gebäude der Umgebung aufgreift. Das typisch österreichische Format 25x12x6,5 cm war Vorgabe, die Klinker wurden in Fußsortierung produziert, bei der Vermauerung wurden abwechselnd Vorder- und Rückseiten verwendet um eine lebendiges Farbspiel zu gewähren. Die Oberfläche der für dieses Objekt speziell vom Österreichischen Klinker Kontor entwickelten Kohlebrandklinker ist unregelmäßig, mit gewollten Verformungen und Salzglasur in blauen und braunen Nuancen.
Der Standard berichtete nach der Fertigstellung des Gebäudes:
Optisch kann sich der Neubau mit seiner ansprechend gegliederten Klinkerfassade wirklich sehen lassen. Dahinter steckt mit Steinwolle gedämmter Stahlbeton. Auf möglichst schadstofffreie Bauweise wurde Wert gelegt, sämtliche verwendeten Materialien sind umweltzertifiziert.
Fassade mit mehrfarbigen Steinen
Durch die verschiedenfarbigen Steine wirkt die Fassade abwechslungsreich und modern. Der bisweilen eintönige Eindruck von in Wien üblichen Fassaden mit Putz und Vollwärmeschutz (aus Styropor o. Ä.) wird dadurch vermieden. Klinkerfassaden altern auch besser, da Schmutz und Schlieren nicht so auffallen wie bei Putzfassaden. Ein gewisses Alter verleiht Klinkerfassaden überhaupt erst eine charmante Patina.
Beim Haus in der Rüdengasse wurde nicht bloß eine schlichte glatte Front mit Steinen bestückt. Die Fassade ist nämlich mehrfach gegliedert: durch Vorsprünge, Balkone, waagrechte Akzente und verschiedene dezente Muster. Die Balkone sind mit einem braunen Lochblech ausgeführt und nicht mit blickdichten Platten. Balkone und Gebäude wirken so trotz der Größe angenehm leicht.
Erdgeschoß: Dezenter Dekor in Backstein
Das Erdgeschoß ist jener Teil eines Hauses, wo es sich am meisten zu seiner Umgebung hin öffnet. Die Wiener Tendenz, das Erdgeschoß als abweisende Mauer zu gestalten und damit negativ in den öffentlich Raum auszustrahlen, wurde in der Rüdengasse vermieden.
Ein Bau, der reagiert
Durch Neubauten werden in Wien nicht selten harte Brüche im Stadtbild produziert. Was auf den Webseiten von Architekten und Immo-Firmen teils mit gekonnter Werbesprache als Vorzug vermarktet wird, lässt sich vielleicht auch als Achtlosigkeit oder Egozentrik lesen.
Der Neubau in der Rüdengasse führt freilich klare Neuerungen ein – durchgehend Klinker als Fassadenmaterial und massive Kubatur -, bezieht sich aber in zahlreichen Aspekten auf die Umgebung beziehungsweise nimmt historische Anleihen. In der Presseaussendung des Bauherrn heißt es:
Städtebaulich greift das Projekt die Toröffnung des gegenüberliegenden Anton Kohl Hofs auf, um eine optische Verbindung zwischen den begrünten Innenhöfen herzustellen.
Tor an Tor
Alt und Neu sind gleichermaßen von Symmetrie bestimmt. Die Erker des Gemeindebaus werden vom Neubau durch Balkone gespiegelt.
Beide Gebäude öffnen sich in der Mitte hin zu einem Hof, der im Fall des Gemeindebaus auch öffentlich zugänglich ist. Die geringere Bebauungsdichte des Gemeindebaus ist dem alten Roten Wien der Zwischenkriegszeit geschuldet, wo die Stadt durch kommunale Wohnbauten gezielt aufgelockert werden sollte – als Kontrastprogramm zur vorangegangenen Gründerzeit, wo Grundstücke teils zu 85% bebaut wurden und nur Lichthöfe übrig blieben.
Steinmuster
Zwischen Erdgeschoß und erstem Stock ist ein Muster von abwechselnd hervortretenden Ziegeln eingearbeitet. Die Fläche unter den Fenstern wird schon in der älteren Architektur betont, wo bisweilen Dekor angebracht ist (Beispiel: Hietzinger Hauptstraße 138).
Die gleichsam aufgeraute Fläche hat vielleicht ihre gerade noch erkenn- und deutbare Entsprechung in der groben Putzfassade des gegenüberliegenden Gemeindebaus:
Tradition neu interpretiert
Die regelmäßig heraustretenden Steine („Streifen“) im Erdgeschoß ähneln dem Bossenwerk bzw. Quaderputz älterer Häuser:
Zum Vergleich auf dem Foto unten das Erdgeschoß eines einfachen Gründerzeithauses am Kardinal-Nagl-Platz, ganz in der Nähe. Dieser in Wien häufige Dekor soll die Optik von herausstehenden Natursteinen imitieren. Es handelt sich um einen typisches Stilmittel des Historismus (Ende 19. Jahrhundert).
Klinker: Von der Zwischenkriegszeit inspiriert
Für die Klinkerfassade findet sich eine kleine Entsprechung auf den Erkern des Anton-Kohl-Hofs:
Als Inspiration könnte auch der nahe Rabenhof fungiert haben:
Streifenschmuck
In seiner horizontalen Gliederung nimmt das Gebäude ein Muster des direkt anschließenden Gemeindebaus auf. Der Ende der 1920er-Jahre errichtete Hof ist nicht mehr durch klassischen Fassadendekor, sondern durch Vor- und Rücksprünge, Loggien, Gesimse (waagrechte Elemente) und Fensterfaschen (Rahmen) gegliedert. Horizontale Akzente finden sich in der Architektur der Zwischenkriegszeit häufig.
Früher in der Rüdengasse: Jugendgerichtshof
Dem Neubau geht ein Abriss eines alten Gebäudes voran. In der Rüdengasse befand sich früher der Jugendgerichtshof, der im frühen 20. Jahrhundert als Bezirksgericht Landstraße erbaut worden war. Der Jugendgerichtshof wurde 2003 unter Kanzler Wolfgang Schüssel (ÖVP) und Justizminister Dieter Böhmdorfer (FPÖ) aufgelassen. Drei Jahre später wurde die Liegenschaft um 5,7 Millionen Euro an den Immobilienentwickler CEBA verkauft. 2014 ging das Gebäude um 11,2 Millionen Euro an die Aliqua, die den nicht denkmalgeschützten Bau abreißen ließ. Gemäß der damaligen Gesetzeslage ließ sich der Abbruch nicht verhindern, da das Haus nicht in einer Schutzzone stand.
Ein Plan aus dem Archiv der Stadt Wien zeigt eine reich dekorierte Fassade samt großem Dach. Wurde diese Fassade nie ausgeführt? Oder war der Dekor irgendwann einem Umbau zum Opfer gefallen?
Der Fall in der Rüdengasse ist eines der seltenen Beispiele in Wien, wo der Verlust für das Stadtbild durch einen gestalterisch hochwertigen Neubau wohl zumindest kompensiert worden ist. Fragen der Neubauqualität wurden auch schon als mögliches Kriterium für Abbruchverfahren vorgeschlagen. Aus einem Artikel der Tageszeitung Der Standard (2022):
Bei der Bewertung der Erhaltungswürdigkeit eines Gebäudes würden derzeit ausschließlich kulturelle beziehungsweise „visuelle“ Maßstäbe angelegt, sagte [Stadtforscher Robert Temel]; es sei aber nicht einsichtig, warum es da nicht auch beispielsweise viel mehr um Nutzungsmischung oder auch um Nachhaltigkeit gehen sollte. Auch die Qualität des nach einem etwaigen Abriss entstehenden Neubaus sollte in diese Begutachtungen einfließen, meinten sowohl Temel als auch Architektin Verena Mörkl. Doch es sei alles andere als einfach, verbindliche Zusagen über die Gestaltung eines Neubaus mit einer Abbruchgenehmigung zu verknüpfen.
Quellen
- Stadt Wien will Abbrüche weiter erschweren (Der Standard, 30.9.2022)
- Ehemaliger Jugendgerichtshof: Klinker statt Kerker (Der Standard, 8.3.2019)
- Jugendgerichtshof wechselt den Besitzer (Der Standard, 1.10.2014)
- Jugendgerichtshof (mit Foto der Plans für die Fassade) auf Wien Geschichte Wiki
- Wohnhausanlage Rüdengasse auf der Webseite der Firma Österreichisches Klinker-Kontor
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