Der Wiener Westbahnhof. Seit der Sanierung und dem Ausbau ist die denkmalgeschützte Halle aus dem Jahr 1951 zwischen zwei riesigen Neubauten eingezwickt. Es ist ein herber Charme, den die in graues Wellblech gekleideten Türme mit ihren klobigen Baumassen und lieblos befestigten Werbeschildern versprühen.
Hinter der weithin sichtbaren Wolkenspange steht nun das nächste Bauprojekt an. Hier befindet sich das sogenannte „blaue Haus“, das früher den ÖBB gehörte und in dem nach wie vor einige Geschäfte und eine Apotheke geöffnet haben – noch. Denn genau an dieser Stelle plant IKEA den Neubau eines Möbelhauses.
Alle Artikel zum 2019 abgerissenen Blauen Haus finden Sie hier.
Einrichtungshaus statt monumentaler Gründerzeitbau
Seit Monaten wird kräftig die Werbetrommel gerührt. Hej 1150, heißt es auf der eigens eingerichteten Homepage. Den Wienerinnen und Wienern soll das Immobilienprojekt schmackhaft gemacht werden.
„IKEA möchte am Wiener Westbahnhof ein innovatives Einrichtungshaus mit viel Platz für die Menschen in der Umgebung errichten“, ist auf der offiziellen Seite zu lesen. Das Einkaufen ohne Auto soll durch den zentralen Standort einfacher werden. Nicht mehr am Stadtrand, sondern mitten in der Stadt sollen die beliebten Produkte an die Frau und den Mann gebracht werden. Eine ganz neue Art von Möbelhaus, ja, eine Weltpremiere wird versprochen.
Auch optisch wird aufgetrumpft: „Ein freundlicher urbaner Treffpunkt mit viel Platz für Pflanzen und Bäume“, „begrünte Fassadenelemente“, „helle Schaufensterflächen“, wie auf der IKEA-Webseite zu lesen ist. Ein Detail aber fehlt: Das blaue Haus.
Unbeschadet durch den Krieg gekommen
Wer heute vor dem blauen Haus steht, könnte auf den ersten Blick meinen, einen typischen 50er-Jahre-Bau vor sich zu haben. Doch die hohen Räume, die mächtigen Risalite, die streng regelmäßige Anordnung der Fenster und die bis heute in Grundzügen erhaltene Fassade weisen weiter in die Vergangenheit zurück. Tatsächlich hat sich ein über 100 Jahre altes Gründerzeithaus zwischen Mariahilfer Straße und Westbahnhof erhalten. Die Dimensionen sind beeindruckend: Das Haus ist so groß wie ein ganzer Baublock und entspricht mit einer Fläche von rund 60 mal 60 Metern acht typischen Gründerzeithäusern.
Im 2. Weltkrieg wurden der alte Westbahnhof und über 40.000 andere Gebäude in Wien beschädigt oder zerstört. Nicht so das blaue Haus, wie auf Aufnahmen von 1950 und 1952 zu erahnen ist (jeweils ganz links). Die einstige Pracht des Gebäudes wird aber erst auf alten Aufnahmen deutlich (siehe unten).
Fassade in den 1950ern vereinfacht
Verhängnisvoller für das stattliche Gründerzeithaus war die Zeit nach dem Krieg. In den späten 1950ern muss es gewesen sein, als dem seinerzeitigen ästhetischen Geschmack entsprechend die kunstvollen Stuckverzierungen fast zur Gänze zerstört wurden. Was heute als Frevel erscheinen mag, war damals gängige Praxis. Hunderte Wiener Gründerzeithäuser haben so ihre aufwändigen Ornamente eingebüßt.
Blaues Haus schützenswert?
Soll die Stadt Wien das Gebäude vor dem Abriss bewahren oder ist der Neubau attraktiver? Wie immer kommt es auf die Maßstäbe an, die angelegt werden: Muss die gesamte Fassade original sein, damit ein Haus als erhaltenswert gilt? Oder reicht auch die Hälfte? Müssen besondere ästhetische Ansprüche erfüllt werden? Ist auch die grundsätzliche geschichtliche Bedeutung relevant, vor allem jetzt, wo am Westbahnhof nicht viel „Altes“ mehr übrig ist? Wäre das Haus vielleicht sogar prädestiniert für eine Rekonstruktion nach dem Vorbild der ursprünglichen Fassade? Oder handelt es sich bloß um einen unbedeutenden Nutzbau?
Mit diesen Fragen dürften sich die Wiener Magistrate auseinandergesetzt haben, denn seit Sommer 2018 gilt eine Genehmigungspflicht für Abrisse von Altbauten. Architektonisch und historisch wertvolle Gebäude können damit vor dem Abbruch geschützt werden. Offensichtlich wird das blaue Haus aber nicht für schützenswert erachtet. Welche Gründe die Beamten dafür anführen, ist unklar. Die Bescheide und Entscheidungen der Magistratsabteilungen sind für die Öffentlichkeit nicht zugänglich.
Von wirtschaftlicher Seite her ist es wahrscheinlich unkomplizierter: Ein Neubau ist effizienter, einfacher, gibt den Planern mehr Freiheit. Vielleicht ist er sogar ökologischer. Das alte Haus könnte sich auch einfach nicht so gut als Möbelhaus eignen. Überhaupt, sind die Faktoren historische Bedeutung und Erhaltungswürdigkeit eigentlich tragfähige Kategorien? Sollte das nicht eher der Markt regeln und nicht die Behörden? – So vielleicht die wirtschaftsliberale Sicht.
Abriss in Vorbereitung
Die Würfel dürften gefallen sein. Für den Neubau ändert die Stadt Wien gerade die Flächenwidmungspläne. So wird sich das blaue Haus also allem Anschein nach in eine Serie rezenter Abrisse einreihen. Alleine im 15. Bezirk sind seit Frühjahr 2018 bereits drei Altbauten geschleift worden: Ein großes historistisches Gebäude am Mariahilfer Gürtel, ein Gewerbegebäude an der Linken Wienzeile 212 und ein Gründerzeithaus in der Diefenbachgasse 9. Fast hätte es auch zwei Biedermeierhäuser in der äußeren Mariahilfer Straße 166-168 erwischt, deren Abriss indes gestoppt wurde.
EU-Grüne: IKEA und die "Steuertricks"
Mit der geplanten neuen Wiener Filiale des Möbel- und Einrichtungsgiganten rückt auch ein ganz anderer Aspekt in den Fokus. Dabei kommt das EU-Parlament ins Spiel. Unumwunden stellt der finanz- und wirtschaftspolitische Sprecher der europäischen Grünen fest: „Die Steuertricks von IKEA sind besonders skrupellos und haben einen riesigen Schaden für den Fiskus angerichtet. (…) IKEA hat ein ausgeklügeltes System aufgebaut, um die Steuergelder am Fiskus vorbei zu schleusen.“, so Sven Giegold nach der Veröffentlichung einer Studie im Jahr 2016. Die EU-Kommission hat eine Prüfung der Steuerpraktiken des Konzerns eingeleitet, der jedoch beteuert, im Einklang mit den EU-Vorschriften gehandelt zu haben. In Deutschland hat IKEA in der Zwischenzeit bereits Besserung gelobt.
Der Konzern dürfte sich auch für seine neue Wiener Filiale gute Gewinne erhoffen. Immerhin sollen mehr als 15 Millionen Euro an den früheren Eigentümer – die ÖBB – als Kaufpreis für die Immobilie gegangen sein. Alle gewinnen, wie es scheint.
Warum wird der Altbau nicht adaptiert?
Am Ende bleibt die Frage, ob nicht auch beides möglich ist – der Erhalt des Gründerzeitbaus und seine Adaptierung zu einem Möbelhaus. Ist es nicht gerade die Offenheit für viele verschiedene Nutzungen – z.B. Büros, Wohnungen, Geschäfte, Start-Ups -, die Gründerzeithäuser so einzigartig macht? Im Hinblick auf diese Nutzungsoffenheit ist das alte blaue Haus schon wieder ganz modern.
Trotzdem wird die Chance, Alt und Neu kreativ miteinander zu verbinden, in der Mariahilfer Straße 132 leider nicht wahrgenommen. So geht demnächst wieder ein kleines Stück Wiener Geschichte verloren.
Kontakte zu Stadt & Politik
- SPÖ: kontakt@spw.at, Tel. +43 1 535 35 35
- ÖVP: info@wien.oevp.at, Tel. +43 1 51543 200
- Die Grünen: landesbuero.wien@gruene.at, Tel. +43 1 52125
- NEOS: wien@neos.eu, Tel. +43 1 522 5000 31
- FPÖ: ombudsstelle@fpoe-wien.at, Tel. +43 1 4000 81797
(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum.
Wenn Sie mir etwas mitteilen möchten, können Sie mich per E-Mail und Formular erreichen. WienSchauen hat auch einen Newsletter: