Über 230 Jahre alt ist das kleine Haus in der Freundgasse 9, mitten im 4. Wiener Gemeindebezirk. Hier gelten Denkmalschutz und Schutzzone – also der bestmögliche Schutz, um historische Gebäude langfristig zu erhalten. Während die Nachbarhäuser vorbildlich renoviert sind, verfällt Haus Nr. 9 seit vielen Jahren.
Hinweis: Dieser 2018 erschienene Artikel wurde 2020 umfangreich ergänzt und wird seither regelmäßig aktualisiert (zuletzt im April 2024). Eine Sanierung dürfte bevorstehen.
Häuser aus dem 18. Jahrhundert
Schleifmühlgasse, Margaretenstraße, Wiedner Hauptstraße – die Gegend hinter der Technischen Universität hat sich in den letzten Jahren zum Trendviertel gemausert. Die einzigartige Lage zwischen Naschmarkt und Belvedere zieht bunte Lokale und neue Geschäfte an und ist auch bei Wohnungssuchenden beliebt wie nie zuvor. Unzählige Sanierungen und Dachausbauten zeigen, wie sich neuer Wohnraum schaffen und erhalten lässt, während zugleich die historische Bausubstanz für die nächste Generation gesichert bleibt.
Die schmale Freundgasse ist ein kleines, aber wenig bekanntes Schmuckstück bei der Margaretenstraße. Wer bei Anna Jellers bekanntem Buchgeschäft einbiegt, wird nicht enttäuscht: In der Freundgasse 5-13 stehen fünf historische Häuser, wie sie nur noch selten in Wien zu finden sind. Weder das Revolutionsjahr 1848, noch die massive Bautätigkeit in der Gründerzeit (ca. 1848-1918), der erste und zweite Weltkrieg, und auch nicht die radikalen Modernisierungen der Nachkriegszeit konnten den kleinen Häusern etwas anhaben.
Der Baustil wird als Josephinischer Plattenstil bezeichnet. Die um die Zeit von Kaiser Joseph II. errichteten Gebäude sind geprägt von einer gewissen Schlichtheit und nüchternen Strenge, etwa im Vergleich zum ausladenden Barock unter Maria Theresia. Dass eine ganze Häuserzeile solcher Häuser so lange Zeit unbeschadet überdauert hat, ist extrem selten.
Auf den ersten Blick entsteht vielleicht der Eindruck, den Spittelberg (7. Bezirk) vor sich zu haben. Durchaus nicht verkehrt, denn hier wie dort stehen geschlossene Ensembles von Häusern aus dem 18. Jahrhundert. Nur der öffentliche Raum ist im 4. Bezirk alles andere als attraktiv: Viel Asphalt, viele Parkplätze, Hängelampen statt historischer Beleuchtung und wenig Platz zum Gehen.
Häuserzeile unter Denkmalschutz
Die alten Häuser in der Freundgasse befinden sich in einer Schutzzone, die Abrisse und Verfall verhindern soll. Zusätzlich sind alle fünf Häuser auch noch unter Denkmalschutz. An sich die besten Voraussetzungen, um die historischen Häuser langfristig zu erhalten.
Freundgasse 9 verfällt seit vielen Jahren
Doch aus dem historischen Ensemble sticht ein Haus hervor: Nummer 9. Nicht, weil es ganz anders aussehen würde oder nicht mehr in originalem Zustand wäre. Sondern weil es verfällt – und das seit Jahren. Denkmalschutz und Schutzzone scheinen nicht zu greifen.
Gesetz müsste Verfall verhindern
Wenn es um den Erhalt von Gebäuden geht, ist die Wiener Bauordnung ziemlich eindeutig: Der Eigentümer muss das Gebäude in “gutem, der Baubewilligung und den Vorschriften dieser Bauordnung entsprechendem Zustand erhalten”. Für Gebäude innerhalb von Schutzzonen, also auch für die alten Häuser in der Freundgasse, gilt darüber hinaus die “Verpflichtung, das Gebäude, die dazugehörigen Anlagen und die baulichen Ziergegenstände in stilgerechtem Zustand und nach den Bestimmungen des Bebauungsplanes zu erhalten.“ Wie kann es also sein, dass ein Haus von solch historischer Bedeutung einfach nach und nach verkommt?
Baupolizei seit zumindest 2017 informiert
Die Erhaltungspflicht wird von der Baupolizei kontrolliert, die auch Sanierungsaufträge erteilen und notfalls sogar selbst durchführen kann. Auf eine Anfrage hieß es 2017, der Eigentümer werde …
… hinsichtlich der Möglichkeiten von Dachgeschoßausbauten und der Inanspruchnahme von Fördermöglichkeiten zu beraten, um im Sinne der Erhaltung der Gebäude weiterzuhelfen. Dort, wo die Bausubstanz noch besser ist, wird mittels Bauaufträgen zur Behebung der Baugebrechen vorgegangen.
Die Antwort verwundert, denn sollte nicht just dort mit den Reparaturen begonnen werden, wo die Bausubstanz eben nicht mehr gut ist? Selbst über ein Jahr nach dieser Auskunft waren keine äußerlich erkennbaren Sanierungsarbeiten zu sehen (Fotos unten).
2019: Der Verfall geht weiter
Mit Ende 2019 waren zwei Jahre seit der ersten Meldung an die Baupolizei vergangen. Eine Verbesserung des Bauzustandes ließ sich aber nicht erkennen. Im Gegenteil: Seither fehlen auch noch die Fenster im Erdgeschoß, die durch Holzplatten ersetzt oder verdeckt sind. Auch die Schäden an der Fassade sind nach wie vor nicht behoben. Gilt die Erhaltungspflicht nicht mehr?
Auch am Gesims gibt es seit zumindest 2017 leichtere Schäden. Schwerwiegender dürfte der Schaden am Dach sein.
Kommt Sanierung?
2019 erklärte die Baupolizei, dass bereits ein Gutachten eines Sachverständigen über die Baumängel vorliegt, wie von den Behörden gefordert worden war. Der Eigentümer dürfte wohl die Absicht zur Sanierung haben, denn ihm gehöre auch ein Nachbargebäude, das sich heute in einem ausgezeichneten Zustand präsentiert. Es liefen Gespräche hinsichtlich Förderungen für die Sanierung (gemeint ist wohl der Altstadterhaltungsfonds), und:
Die MA 37 [Baupolizei] beobachtet den Fortschritt dieser Bemühungen genau und wird bei Bedarf einen Auftrag zur Sanierung erteilen.
Alle Parteien fordern Sanierung
Das Haus in der Freundgasse 9 beschäftigte auch die Politik im Bezirk. Die Grünen brachten im September 2019 einen Antrag ein, der von allen anderen Parteien unterstützt wurde (siehe Protokoll der Sitzung).
Die Bezirksvertretung spricht sich dafür aus dringend notwendige Maßnahmen zu ergreifen, um den Erhalt des wertvollen Biedermeierhauses in der unter Ensembleschutz stehenden Freundgasse zu ermöglichen. Dieses seit Jahrzehnten vor sich hin verfallende Haus steht inmitten einer durchgängigen Häuserzeile im Biedermeier, alle sind bewohnt und renoviert, bis auf dieses.
(…) Der Eigentümer wurde anscheinend schon lange nicht mehr zu den wichtigsten Erhaltungsmaßnahmen verpflichtet. Nachdem im vergangenen Jahr bereits ein Biedermeierhaus im 4. Bezirk [Sperl-Haus, Anm.] verloren gegangen ist, sollten die dringend notwendigen Erhaltungsmaßnahmen an diesem Gebäude durchgeführt werden, bevor der Kipppunkt und somit die wirtschaftliche Abbruchreife erreicht ist.
Das Dach ist teilweise eingestürzt, Getier haust darin, die Nachbarschaft schaut seit vielen Jahren auf ein immer stärker verwahrlostes Haus. Das absichtsvolle Verkommenlassen von wertvoller Bausubstanz muss vor allem im Hinblick auf leistbares Wohnen im Bezirk unterbunden werden (…)
Bei diesem Antrag handelt es sich um einen Resolutionsantrag. Das heißt, die politischen Vertreter tun darin bloß den Willen des Bezirks kund. Eine unmittelbare Folge hat der Beschluss aber nicht. Ob der Antrag einer Magistratsabteilung oder einem Stadtrat vorgelegt wurde?
2020: Schäden am Dach
Im Antrag vom September 2019 ist auch vom eingestürzten Dach die Rede. Diese Schäden lassen sich auch durch Fotos belegen, die WienSchauen anonym zugespielt wurden:
Warum greifen die Behörden nicht ein?
Die für den 4. Bezirk zuständige Abteilung bei der Baupolizei wurde im Mai 2020 über das Dach informiert. Folgen hatte das keine. Einige Monate später – September 2020 – wurden Behörden erneut verständigt. Auch auf einem Foto, das wohl im November 2020 aufgenommen wurde, sind die Schäden noch zu sehen. Das teilweise kaputte Dach dürfte sogar auf dem Satellitenbild (unten) sichtbar sein. Im Dezember 2020 wurde das Wohnbauressort, das von das Vizebürgermeisterin Kathrin Gaál (SPÖ) geleitet wird, informiert.
2022: Bauarbeiten an der Fassade
Im Oktober 2022 waren Bauarbeiten an der Fassade zu beobachten. Der Dekor wurde zerstört. Handelt es sich um von der Baupolizei beauftragte Sicherungsmaßnahmen?
Unverändert präsentierte sich das Haus einen Monat später. Die abgeschlagenen Gesimse wurden nicht wiederhergestellt:
Die Partei Links/KPÖ stellte eine Anfrage an Bezirksvorsteherin Lea Halbwidl (SPÖ), die im Dezember 2022 folgendermaßen beantwortet wurde:
Die MA 37 hat mir mitgeteilt, dass seit 2016 eine Reihe von Schritten gesetzt wurden, um die Situation in der Freundgasse 9 zu stabilisieren bzw. zu verbessern. Dabei hat sich leider bereits 2018 durch Einholung von Sachverständigengutachten ergeben, dass wirtschaftliche Abbruchreife vorläge. In Gesprächen mit dem damaligen Eigentümer gelang eine Übereinkunft, dass das Haus nicht abgetragen, sondern renoviert werden sollte. Ein Bauansuchen an die MA 37 wurde im Jahr 2020 eingereicht, von der MA 37 allerdings zur Verbesserung zurückgestellt.
Ich selbst habe mehrfach das Gespräch mit dem Eigentümer gesucht, um die Bemühungen zum Erhalt des Gebäudes zu unterstützen (…) Im Herbst 2022 wurde der MA 37 mitgeteilt, dass der bisherige Eigentümer leider verstorben ist.
2023: Massive Schäden am Dach
Von der Straßenperspektive aus fällt sofort die beschädigte Fassade auf. Dass das Dach aber noch weit schadhafter ist, zeigen die folgenden Aufnahmen. Dass das trotz Denkmalschutz möglich ist, erstaunt.
2024: Räumungsarbeiten
Derzeit (März 2024) wird das Gebäude leergeräumt. Dachziegel wurden abgetragen, Gegenstände aus dem Inneren entfernt.
Einem Aushang der Bezirksvorstehung zufolge handelt es sich nicht um einen Abriss. Der Eigentümer habe angekündigt, das denkmalgeschützte Haus restaurieren zu wollen.
Im April 2024 waren die Sicherungsarbeiten schon deutlich zu erkennen. Das Dach wurde nach dem Entfernen der Ziegel mit einer Plane bedeckt.
Die Mieten und der Abriss-Schutz
Wird der Leerstand oder Verfall alter Häuser politisch oder medial diskutiert, kommt häufig folgendes Argument: Die Sanierung sei zu teuer bzw. die Mieteinnahmen viel zu gering, um die Sanierungskosten zu erwirtschaften. Ein Abriss sei unausweichlich und lasse sich nur verhindern, wenn es keine Mietobergrenzen mehr gibt.
Die Sache ist wesentlich komplexer. Hier eine Kurzfassung:
Die Ungleichheit im Mietrecht
Im Mietrecht gibt es eine deutliche Ungleichbehandlung von älteren und neueren Gebäuden. Das kann im Extremfall dazu führen, dass bei einem schlecht gedämmten und für das Stadtbild unbedeutenden Wohnhaus aus den 1960ern hohe Mieten verlangt werden dürfen, während bei einem Jugendstilhaus strikte Grenzen für den Mietzins gelten. Eine Vereinheitlichung der Mieten von Altbauten und Neubauten ist bisher noch keiner Regierung gelungen.
Problematisch ist, dass der Zeitpunkt, ab dem ein Haus als Altbau gilt, willkürlich festgelegt ist. Und dieser Zeitpunkt wandert nicht „in der Zeit nach vorne“, sondern bleibt fixiert. So werden auch später errichtete Gebäude rechtlich gesehen nie zu Altbauten, auch wenn sie es aufgrund ihres Baualters schon sind.
Gäbe es also weniger Abrisse, wenn Altbaumieten höher wären? Das könnte durchaus sein. Aber auch Folgendes muss bedacht werden:
- Ein Neubau ist wohl immer billiger und profitabler als die Sanierung eines Altbaus. Im Neubau lässt sich einfach mehr Fläche unterbringen. Selbst ohne die Begrenzung der Altbau-Mieten wären Abriss und Neubau wahrscheinlich immer noch wirtschaftlich „sinnvoller“.
- Bei vielen Immobilienprojekten geht es nicht um Vermietung, sondern um den Abverkauf der einzelnen Wohnungen für Eigennutzer. Die Frage der Miethöhe spielt dann also nur eine theoretische Rolle.
Wie Behörden und Politik Häuser (nicht) schützen
Bei der Frage Erhalt vs. Abriss haben Politik und Behörden eine viel größere Bedeutung:
- Die Behörden fertigen die Bebauungspläne an, die Politiker beschließen sie. Auf die Details dieser Bebauungspläne kommt es an.
- Werden bei den Bebauungsplänen Schutzzonen eingerichtet, um historische Gebäude vor dem Abriss zu bewahren?
- Sind auch die maximal erlaubten Bauhöhen so festgesetzt, dass sie der tatsächlichen Höhe der alten Häuser entsprechen? Wenn nicht, ist ein höherer Neubau profitabler – und ein Abriss wahrscheinlich.
Der Bebauungsplan entscheidet also maßgeblich, welche Investoren und welche Projekte angelockt werden. Sanierung und Umbau – oder Abriss und Neubau.
Zumindest in Freundgasse hat die Stadt Wien diesbezüglich alles richtig gemacht: Es gilt eine Schutzzone und es darf nicht höher gebaut werden, als die alten Häuser hoch sind. Spekulative Abbrüche wie etwa in der Weinzingergasse in Döbling werden dadurch weniger wahrscheinlich.
Eine offene Baustelle bleibt der Altstadterhaltungsfonds: Mit diesem Fond unterstützt die Stadt Wien Eigentümer von historischen Gebäuden bei der Renovierung ihrer Häuser. Aber die Geldmittel dieses Fonds sind viel zu gering. Das begünstigt Abrisse.
Vorteile von Denkmalschutz
Zumindest kommt der Gesetzgeber den Eigentümern denkmalgeschützter Häuser auch in einigen Punkten entgegen:
- Die Grundsteuer ist niedriger als bei nicht-denkmalgeschützten Häusern.
- Die Bindung an die begrenzten Altbaumieten (Richtwertmietzins) kann unter bestimmten Umständen entfallen.
- Bei betrieblicher Nutzung können Aufwände für die Erhaltung des Gebäudes leichter abgeschrieben werden.
- Öffentliche Fördermittel sind für denkmalgeschützte Häuser leichter zu bekommen.
- Auch bei Häusern, die nicht unter Denkmalschutz stehen, können die Mieten u. U. über den regulären Richtwert angehoben werden, wenn das Haus saniert werden muss.
Wer schützt die Häuser vor dem Verfall?
- Hetzgasse 8 (3. Bezirk)
- Gebäude des ehemaligen Bahnhofs Hauptzollamt (3. Bezirk)
- Lienfeldergasse 27 (16. Bezirk)
- Breite Gasse 15 (7. Bezirk)
Kontakte zu Stadt & Politik
- SPÖ (wien.wieden@spw.at)
- Die Grünen (wieden@gruene.at)
- ÖVP (wieden@wien.oevp.at)
- NEOS (wien@neos.eu)
- Links (kontakt@links-wien.at)
- FPÖ (ombudsstelle@fpoe-wien.at)
Die Bezirksvertretungen sind die Parlamente der Bezirke. Die Parteien in den Bezirksvertretungen werden von der Bezirksbevölkerung gewählt, meist gleichzeitig mit dem Gemeinderat. Jede Partei in einem Bezirk kann Anträge und Anfragen stellen. Findet ein Antrag eine Mehrheit, geht er als Wunsch des Bezirks an die zuständigen Stadträte im Rathaus. (Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Sitze in der Bezirksvertretung im November/Dezember 2020.)
- SPÖ: kontakt@spw.at, Tel. +43 1 535 35 35
- ÖVP: info@wien.oevp.at, Tel. +43 1 51543 200
- Die Grünen: landesbuero.wien@gruene.at, Tel. +43 1 52125
- NEOS: wien@neos.eu, Tel. +43 1 522 5000 31
- FPÖ: ombudsstelle@fpoe-wien.at, Tel. +43 1 4000 81797
(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
Quellen und weitere Infos
- Denkmalschutz. Auswirkungen, Pflichten und Sanktionen (Wirtschaftskammer)
- Wien: Biedermeierhaus verfällt trotz Denkmalschutz und Schutzzone im 4. Bezirk (Initiative Denkmalschutz, 7.2.2020)
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