Meidling: Behörde gibt Jahrhundertwendehaus zum Abriss frei

In Meidling wurde ein Gründerzeithaus aus der Jahrhundertwende abgerissen. Zumindest die dekorierte Fassade war sogar in saniertem Zustand. Trotzdem hatte das Wohnbauressort von Stadträtin Kathrin Gaál (SPÖ) den Abriss erlaubt. Wie schon bei unzähligen Häusern davor.

Dieser im Juli 2022 erschienene Artikel wurde mehrfach aktualisiert (zuletzt im Mai 2024).

Gründerzeithaus in Wien-Meidling nach Teilabriss, Loch in der Fassade, Jahrhundertwende-Dekor
Hohenbergstraße 18: Abriss von Behörden erlaubt (Foto: 2022)

Jahrhundertwendehaus demoliert

Nur Tage nach dem „Abbruchskandal“ um das Biedermeierhaus in der Kaiserstraße 31 (7. Bezirk) ging das Abreißen weiter. Nun traf es ein Gründerzeithaus nahe dem Bahnhof Meidling. Das Haus wurde 1904 erbaut, der Fassadenschmuck ist noch vollständig erhalten. Zumindest die Fassade war sogar saniert.

Hier eine Aufnahme von 2017, als die Liegenschaft noch nicht im Besitz der aktuellen Eigentümer war:

Gründerzeithaus in Wien-Meidling mit Fassadendekor
Hohenbergstraße 18 (Foto: Initiative Denkmalschutz, 2017)

Noch im Juni 2022 machte das Haus einen unscheinbaren Eindruck:

Im Juli 2022 erhielt WienSchauen eine Meldung über einen begonnenen Abriss. Bei einem Besuch vor Ort zeigte sich das Gebäude mit einer riesigen Lücke in Fassade und Dach:

Gründerzeithaus mit stark beschädigter Fassade bzw. Loch in der Fassade in Wien-Meidling
Hohenbergstraße 18 im Juli 2022

Die Firma hinter dem Abbruch

Wer hat den Auftrag für den Abriss gegeben? Im öffentlichen Firmenverzeichnis findet sich eine Hohenbergstraße 18 Projekt GmbH, die seit dem Kauf der Liegenschaft im Jahr 2018 besteht. Der Geschäftsführer der Firma hat dieselbe Position in zahlreichen Unternehmen und ist im Vorstand der großen Grazer Immobilienfirma Aventa. Der Eigentümer ist ebenfalls in vielen Unternehmen tätig und hält Anteile an etlichen Gesellschaften. 2016 wurde er zusammen mit anderen Wirtschaftstreibenden vom damaligen Kanzleramtsminister Josef Ostermayer ehrenhalber zum „Kommerzialrat für die Statistik“ ernannt.

Bereits 2020 war um Abriss angesucht worden. Den Abbruchbescheid erteilte die zu Stadträtin Kathrin Gaál (SPÖ) gehörende Baupolizei im September 2021. Wenige Monate später wurde ein Vorkaufsrecht für eine große Versicherung eingetragen.

Das unbrauchbare Wiener Baurecht

Die Initiative Denkmalschutz zeigte sich empört über den Abriss:

Noch im Juni war das secessionistische Gründerzeithaus eine Baustelle und eingerüstet, doch jetzt klafft ein riesiges Loch in der Gründerzeitfassade und der dekorative Attikaaufsatz ist ebenfalls zerstört.

Loch in der Fassade eines Gründerzeithauses in Wien-Meidling, Hohenbergstraße 18
Hohenbergstraße 18: Aus der Lücke im Gesetz wurde ein Loch in der Fassade. (Foto: Juli 2022)

Lücke im Baurecht - Loch in der Fassade

Seit langem versprechen Politiker in Wien mehr Schutz für historische Gebäude. Nachdem jahrzehntelang ungezügelt abgerissen werden durfte, wurde das Wiener Baurecht 2018 verschärft. Seither sollen vor 1945 erbaute Gebäude besser vor Abrissen geschützt sein. Doch die Gesetzesverschärfung kam nicht ohne Lücken aus: Selbst nachweislich erhaltenswerte historische Gebäude können abgerissen werden, wenn die Behörden sie als „abbruchreif“ einstufen. Diese Einstufung wird auf der Basis von privaten Gutachten vorgenommen, die von Bauträgern bzw. Investoren beauftragt und bezahlt werden.

Das Haus in der Hohenbergstraße 18 ist ein unübersehbares Beispiel für die klaffende Lücke im Gesetz. Georg Prack, Wohnbausprecher der Grünen in Wien, fordert Reformen:

Das jüngste Beispiel aus Meidling zeigt, dass die wirtschaftliche Abbruchreife zum Freibrief für den Abriss von erhaltenswerten Gründerzeithäusern wird. Es muss sichergestellt werden, dass die wirtschaftliche Abbruchreife nicht länger als Begründung für eine Abrissbewilligung herangezogen werden kann. Deshalb fordern wir, dass dieser Tatbestand aus der Bauordnung gestrichen wird.

(Hinweis: Ende 2023 kam es zu Verschärfungen im Wiener Baurecht. Abrisse aufgrund von Abbruchreife könnten damit seltener werden.)

Abriss im September 2022

Weniger als zwei Monate nach dem Erscheinen dieses Artikels wurden das Gebäude schließlich abgetragen.

2023: Nichts mehr übrig

Im Dezember 2023 war das Grundstück komplett leergeräumt:

Die Opfer der Untätigkeit

Das Haus in der Hohenbergstraße ist nur einer unter vielen Fällen von Abriss per Abbruchreife. In allen diesen Fällen gilt: Ob sich ein Gebäude wirklich nicht mehr sanieren hätte lassen, ist für Außenstehende nicht erkennbar, denn Abbruchverfahren sind intransparent und eigene Gutachten werden von den Behörden nicht eingeholt. Die Anforderungen an Altbauten sind zudem aus bautechnischer Sicht zu hoch. Reformen sind überfällig. Die Stadtregierung ist seit Jahren säumig und lässt dadurch die Demolierung von Gebäuden leichtfertig zu.

Kurz gesagt: Per „Abbruchreife“ lässt sich in Wien faktisch jedes ältere Haus abreißen. Das hatte auch der Denkmalbeirat des Bundesdenkmalamts angemerkt – und ein von den Wiener Behörden bereits als „abbruchreif“ eingestuftes Gebäude schnell unter Schutz gestellt. Das Gebäude (Sigmundsgasse 5 im 7. Bezirk) ist heute mustergültig saniert. Also weit weg von tatsächlicher Abbruchreife.

Hier einige Beispiele für in den letzten Jahren per „Abbruchreife“ demolierte historische Gebäude:

Kontakte zu Stadt & Politik

www.wien.gv.at
post@bv12.wien.gv.at
+43 1 4000 12111

Die Bezirksvorstehungen sind die politischen Vertretungen der einzelnen Bezirke. Die Partei mit den meisten Stimmen im Bezirk stellt den Bezirksvorsteher, dessen Aufgaben u.a. das Pflichtschulwesen, die Ortsverschönerung und die Straßen umfassen.

+43 1 4000 81261
 
Vizebürgermeisterin und Stadträtin Kathrin Gaál untersteht die Geschäftsgruppe Wohnen. Zu dieser gehören u. a. die Baupolizei (kontrolliert die Einhaltung der Bauvorschriften u. dgl.), Wiener Wohnen (Gemeindewohnungen) und der Wohnfonds (Fonds für Neubau und Sanierung).

(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)

Quellen

WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum.

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