Im 9. Bezirk wird ein nicht einmal vierzig Jahre altes Gebäude abgerissen. Das 1985 vom bekannten Architekten Wilhelm Holzbauer errichtete Bürohaus in der Mariannengasse 5 sticht durch seine postmoderne Gestaltung hervor. Es wurde mit Bezug auf den benachbarten Altbau errichtet und befindet sich sogar in einer Schutzzone. Der Abriss wird von der staatlichen Bundesimmobiliengesellschaft betrieben, die hier ein neues Universitätsgebäude errichtet.
Ist es wirklich nachhaltig, ein so junges und offenbar intaktes Gebäude schon wieder abzubrechen? Und warum haben die Behörden das architektonisch durchaus interessante Gebäude nicht geschützt?
Universität baut aus
Zwischen altem und neuem AKH bleibt kein Stein auf dem anderen. Die Medizinische Universität Wien bekommt hier um über 300 Millionen Euro ein neues Forschungs- und Lehrzentrum. Der Campus Mariannengasse umfasst einerseits Altbauten, die saniert und neu genutzt werden, andererseits Neubauten, die anstelle von anderen Gebäuden errichtet werden.
Abgebrochen wird unter anderem eine unattraktive Hochgarage in der Rummelhardtgasse, ein Bürohaus in der Spitalgasse und ein Gebäude aus den 1980ern in der Mariannengasse. Die Altbauten (inkl. Mariannengasse 3) bleiben jedoch alle erhalten.
Dass der geplante Neubau in der Spitalgasse keinerlei Rücksicht auf die historische Umgebung nimmt, lässt sich verschmerzen. Im Vergleich zum Ist-Zustand bedeutet selbst dieser Bruch (gegenüber ist das Alte AKH) eine deutliche Aufwertung. Etwas problematischer sieht die Sache aber in der kleinen Mariannengasse aus.
Der dezente Charme der Postmoderne
Die Postmoderne war in der hiesigen Architektur keine lange und ergiebige Periode. Als Reaktion auf die standardisierten Plattenbauten und Bürohäuser der 1960er und 1970er setzten sich einige Architekten in den 1980ern allmählich wieder mehr mit klassischen Formen der Architektur auseinander. Dazu die Architekturhistorikerin Turit Fröbe:
Die Gebäude wurden farbig und verspielt und erhielten häufig eine ironische Note (…) Zum ersten Mal seit Beginn der Moderne ging es nicht mehr darum, die Vergangenheit zu überwinden, sondern die Architekturgeschichte wurde im Gegenteil als Fundus begriffen, aus dem beliebig geschöpft werden konnte.
Ein spielerischer und wohl nicht immer ganz geglückter Umgang mit alten Stilmitteln brachte auch in Wien eine Reihe kurioser und weitgehend unterschätzter Bauten hervor (z. B. Schottenfeldgasse 37, Gumpendorfer Straße 134-136). Auch das auf den ersten Blick unscheinbare Bürohaus in der Mariannengasse 5 gehört dazu.
Neu und Alt vereint
Wäre das Gebäude für sich alleine gestanden, ohne ein entsprechendes Umfeld, mitten in einem Neubaugebiet – es wäre kaum jemandem aufgefallen. Es wäre dann aber wohl auch nicht so geworden, wie es ist. Denn erst der Bezug zum Nebengebäude macht das Haus interessant.
Das benachbarte Gründerzeithaus (das nun saniert und umgebaut wird) bildete quasi den Ausgangspunkt für den Neubau: Die Gestaltung des Erdgeschoßes, die Farbwahl und die zusammengefassten Fenster von zwei Obergeschoßen orientierten sich am altehrwürdigen Nachbarn. Gänzlich ohne Vorbild sind der runde Erker und das gläserne Stiegenhaus. In dieser Hinsicht bricht das Gebäude mit der sonst weitgehend einheitlichen Gestaltung der näheren Umgebung.
War das Gebäudes in der Mariannengasse 5 ein absolut herausragendes Werk einer spannenden Architekturepoche? Wahrscheinlich nicht. War es ein interessanter Beitrag zum Stadtbild? Das schon eher.
Was das Gebäude von den typischen Bürohäusern der 1980er und 1990er abhebt: Die Balance zwischen Neuheit und Rücksicht auf den Bestand. Ein kreatives Weiterbauen des gewachsenen Stadtbildes, ohne auf Innovation und individuellen Ausdruck verzichten zu müssen. Wenn auch sicherlich nicht bis ins letzte Detail durchdacht.
Bezugnahme auf das Umfeld ist überhaupt etwas, das viele Neubauten in Wien vermissen lassen. Bloßes Durchsetzen der eigenen Stilsprache ohne Einbeziehung des spezifischen städtischen Kontextes wird von vielen Architekten und Entwicklern als positiv gesehen. Ob sich das Produzieren von Brüchen vielleicht einfach auf mangelnde Kreativität und/oder planerischen Egoismus zurückführen lässt?
Der vielbeschäftigte Herr Holzbauer
Das Gebäude in der Mariannengasse 5 ist ein Werk von Wilhelm Holzbauer (1930-2019), einem der bekanntesten österreichischen Architekten der letzten Jahrzehnte. Holzbauer war ungemein produktiv: Zwei Hochhäuser in der Donau City, die Ringstraßen-Galerien, die neuen Säle des Musikvereins, der Umbau eines Wiener Gasometers und hunderte weitere Projekte. 1974 war er auch an den Planungen der Fußgängerzone in der Kärntner Straße beteiligt. Die Tageszeitung Die Presse über Wilhelm Holzbauer:
Die Architektur des charmanten, gleichwohl in seiner zwingenden Persönlichkeit nicht ungefürchteten Lebemanns war nie von der verspielten Raffinesse etwa eines Hans Hollein oder der formalen Wucht eines Günther Domenig. Doch Holzbauer baute höchst brauchbare Gebäude für meist zufriedene Bauherren, und seine pragmatischen Häuser hatten in einer schnelllebiger werdenden Bauwelt oftmals mehr Bestand als hochgelobte, doch rasch welkende Orchideenarchitekturen, denen er ohnehin skeptisch gegenüberstand.
Sanierung besser als Neubau
Im Vergleich zum Abriss und Neubau spart jede Sanierung Ressourcen. Dazu die Vereinigung Architects For Future:
Nicht nur werden wertvolle und schwindende Ressourcen bei einem Abriss und Neubau verschwendet, sondern auch bedeutend mehr Energie. Bei der Betrachtung der Energiebilanz des gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes fällt auf, dass durch die Bewertung von grauer Energie eine Sanierung jedem Neubau, selbst dem von Passivhäusern, vorzuziehen ist.
Der Faktor Ressourcen und Umwelt ist auch beim Bauprojekt der Med Uni im 9. Bezirk ein Thema:
Schon in der Planungs- und Ausführungsphase wird höchstes Augenmerk auf den Umweltschutz gelegt. Dies betrifft u.a. Baumaterialien, ausgewählte Energieversorgung sowie Bauverfahren. In Kooperation mit Baukarussell fand vor dem Baubeginn eine intensive und verwertungsorientierte Rückbauphase statt.
Aber warum wird trotzdem ein zumindest äußerlich intaktes Gebäude abgebrochen?
Kein Schutz für das Haus in der Mariannengasse 5
Auf eine Anfrage hin erklärte die Bundesimmobiliengesellschaft:
[B]eim Großbauprojekt MedUni Campus Mariannengasse mussten alle Beteiligten sehr verantwortungsvoll abwiegen, welche Teile des Ensembles für einen modernen Universitäts- und Forschungsstandort adaptiert werden können und welche erneuert werden müssen.
Alle denkmalgeschützten oder in der Schutzzone liegenden Gebäude werden unter Einhaltung der behördlichen Vorgaben umgebaut und saniert.
Zum Gebäudes in der Mariannengasse 5:
Das Gebäude ist nicht denkmalgeschützt und fällt wegen seines relativ jungen Errichtungsdatums (1985) aus dem Schutzrahmen des gründerzeitlichen Ensembles. Der allgemeine Gebäudezustand ist mangelhaft, die viel zu niedrigen Raumhöhen und andere Gegebenheiten würden keine Nachnutzung als Universitätsgebäude zulassen. Die bestehende Fassade als Kulisse zu belassen, war für die Wettbewerbsjury weder funktional noch gestalterisch eine gangbare Option.
Zwar ist das Gebäude nicht denkmalgeschützt, aber es steht in einer Schutzzone. Das heißt: Die Behörden hätten dem Abbruch nicht zustimmen müssen. Die Schutzzone wird zwar in erster Linie für alte Gebäude herangezogen, aber nichts im Baurecht verhindert, dass auch jüngere Gebäude auf diese Weise geschützt werden.
Nach dem Abbruch wird ein Neubau auf dem Grundstück realisiert. Dabei wird ….
… Bezug auf die angrenzenden Gründerzeitfassaden genommen; beim gesamten Bauprojekt wird, wie mit der Stadtplanung abgestimmt, auf die Einfügung in die bestehende historische Stadtstruktur geachtet.
Wie rücksichtsvoll wird die Architektur des Neubaus werden? Noch wurde keine Visualisierung veröffentlicht.
Abriss
Das Haus in der Mariannengasse 5 hat es nie zu medialer Aufmerksamkeit gebracht. Auch der Abriss, der im Mai 2021 begonnen hat, ist nicht bemerkt worden.
Hier sind die letzten Bilder des postmodernen Gebäudes, das nach nicht einmal vierzig Jahren abgetragen wird. Eine vergleichsweise kurze Lebensdauer. Das sollte ein Weckruf sein, künftig möglichst nutzungsoffen und langlebig zu bauen. Mit hohen Räumen und flexibler Raumaufteilung. Damit nicht alle paar Jahrzehnte die Abrissbagger auffahren müssen.
Die Abrissbirne über dem Klinikviertel
Der 9. Bezirk ist Heimat zahlreicher universitärer und medizinischer Einrichtungen. Mit dem Alten AKH, dem Josephinum und den Jugendstilkliniken in der Spitalgasse hat der Bezirk auch ein reiches historisches Erbe. Doch dieses Erbe wird allzu leichtfertig verspielt. Beispiel: Der Abriss der I. Medizinischen Klinik des AKH.
Das von 1909-1911 erbaute Klinikgebäude geht auf Pläne von Emil von Förster zurück. Der berühmte Ringstraßenarchitekt hatte für das Gebäude einen historistisch-funktionalen Stil mit Jugendstil-Elementen gewählt. Das riesige Gebäude durfte jahrelang verfallen und 2020 abgerissen werden – obwohl die Magistrate die Klinik als erhaltenswert eingestuft hatten. Etliche Jahre zuvor war auch schon eine andere Klinik desselben Architekten abgebrochen worden (Foto hier).
Doch geht es nach den Plänen der Stadt Wien, wird es nicht bei diesen Abrissen bleiben. Auch die historische Kinderklinik (Foto unten) soll restlos demoliert werden. Sie ist ebenfalls ein Werk Emil von Försters und noch weitgehend im originalen Zustand der 1910er-Jahre.
Denkmalschutz gilt für die Kinderklinik nicht. An sich sollte sie aber durch die erst 2018 verschärfte Bauordnung geschützt sein. Doch dieser Schutz wird wohl umgangen. Rechtlich einwandfrei möglich, denn bei nachweislicher „Abbruchreife“ dürfen Gebäude trotzdem abgerissen werden. Die Abbruchreife wird übrigens durch ein für unabhängige Stellen nicht einsehbares Verfahren ermittelt (siehe auch die Abbrüche in Schutzzonen im 3. und 21. Bezirk)
Die zentrale Frage ist jedoch: Warum lässt die Stadt Wien ihre Gebäude so lange verfallen, bis sie abbruchreif sind?
Kontakte zu Stadt & Politik
- SPÖ: kontakt@spw.at, Tel. +43 1 535 35 35
- ÖVP: info@wien.oevp.at, Tel. +43 1 51543 200
- Die Grünen: landesbuero.wien@gruene.at, Tel. +43 1 52125
- NEOS: wien@neos.eu, Tel. +43 1 522 5000 31
- FPÖ: ombudsstelle@fpoe-wien.at, Tel. +43 1 4000 81797
(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
Quellen
- MedUni Campus Mariannengasse
- Architekt Wilhelm Holzbauer gestorben (ORF, 15.6.2019)
- Geschätzt und gefürchtet: Wilhelm Holzbauer ist tot (Austria-Architects)
- Wilhelm Holzbauer – Der Fürst tritt ab (Die Presse, 16.6.2019)
- Architects for Future
- Alles nur Fassade?, 2018, Turit Fröbe, S. 128
- Foto Altes AKH (2011, verlinkt): Bwag, Altes AKH Wien, CC BY-SA 3.0
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