In der äußeren Mariahilfer Straße droht ein Abriss. Betroffen sind womöglich gleich zwei Altbauten. Einer davon ist ein ehemaliges Kino, das 1911 von einer Frau gegründet worden war – ein wenig bekanntes Zeugnis der Wiener Kino- und Frauengeschichte. Auch ein nebenliegendes Biedermeierhaus dürfte gefährdet sein.
Werden die Behörden die Häuser schützen? Oder wird der Abbruch erlaubt?
Dieser Artikel wurde mehrmals aktualisiert (zuletzt im November 2024).
Wie Politik und Behörden Abrisse fördern
Der 15. Bezirk ist durch seine zentrale Lage und niedrigeren Preise beliebt – bei Wohnungssuchenden und bei Immobilienfirmen. Viele Gebäude im Bezirk haben Potenzial für neue Wohnungen im Dachgeschoß. Im Idealfall wird durch einen zurückhaltenden Dachausbau das Erscheinungsbild gewahrt und zugleich das ganze Haus saniert. So kann neuer Wohnraum in gut erschlossener Lage entstehen, ohne dass es zu Zerstörungen von Altbauten oder Bodenverbrauch (Bauen auf der „grünen Wiese“) kommt.
Doch viele Investoren und Bauträger wollen lieber abreißen statt sanieren. Erleichtert wird das durch veraltete Bebauungspläne mit fehlenden Ortsbild-Schutzzonen. Jahrzehntelang haben Politik und Behörden abrissfördernde Bebauungspläne ausgearbeitet und beschlossen, auch in der Gegend um die äußere Mariahilfer Straße. Das ist wohl ein Grund, warum an der Ecke von Mariahilfer Straße und Sperrgasse gleich zwei Häuser gefährdet sind. Der hiesige Bebauungsplan gilt seit 1999 – ist also schon längst nicht mehr aktuell.
1911 eröffnetes Kino vor Abriss?
Anfang März 2023 erklärten die Behörden, dass für das Gebäude Sperrgasse 2 um Abriss angesucht wurde. Das Abrissverfahren läuft derzeit, die Entscheidung steht noch aus.
Im Grundbuch sind unter dieser Adresse zwei Gebäude zu finden: ein gelbes Biedermeierhaus und das blau gestrichene Gebäude auf der Mariahilfer Straße 160 (Foto unten). In dem Gebäude auf der Mariahilfer Straße war vor Jahren ein Wettcafé eingemietet, seit dessen Schließung steht es leer. Interessanter ist die schon länger zurückliegende Geschichte, denn das Haus war einst ein Kino.
"Lichtspiele Handl"
Das 1911 eröffnete Handl Kino war bis in die 1970er-Jahre in Betrieb. Die Betreiberin, Irma Handl (1870-1944), war ab 1910 auch Eigentümerin der Liegenschaft. Auf einer Webseite über die Wiener Kinos (kinthetop.at) ist zu lesen:
Das 1905 von einer der weiblichen Wiener Kino-Pionieren, Irma Handl, gegründete Erste Wiener Kinematographentheater zählte zu den wenigen frühen Kinos der Stadt, die nicht als Ladenkino, sondern aus eigener repräsentativer „Kinotheaterbau“ eröffnet wurden. 1911 eröffnete Irma Handl gegenüber dem ursprünglichen Kino ein Nachfolgeetablissement mit über 400 Plätzen [also das Gebäude Mariahilfer Straße 160].
Nach einem Umbau in den 1930ern hatten sogar über 700 Zuschauer Platz. Hier sind zwei Werbeseiten, die in einer alten Kinozeitschrift abgedruckt sind:
Auf dem Blog des Bezirksmuseums Rudolfsheim-Fünfhaus ist über Irma Handl und die alte Kinolandschaft zu lesen:
Geboren als Maria Hahnl am 27.06.1870 leitete sie neben Kinos auch erfolgreich Filmleihanstalten. Über Irma Handls Privatleben ist wenig bekannt, ihre Arbeit in der Mariahilferstraße spricht aber für sich.
Die Mariahilferstraße galt Anfang des 20. Jahrhunderts als eine der Kinostraßen Wiens. Neben dem 6. und 7. Bezirk war auch Rudolfsheim-Fünfhaus einer der Bezirke, in dem viele Kinos zu finden waren. Zusammen kamen die drei Bezirke auf einen Anteil von 16 Prozent aller Kinos (…) In der „Kinostraße“ Mariahilferstraße gab es 1909 fünf Kinos, das entsprach einem Anteil von 8,8 Prozent aller Kinositzplätze in Wien (…)
Die Kulturwissenschaftlerin Martina Zerovnik schreibt auf der Webseite des Forschungsnetzwerks Frauen- und Geschlechtergeschichte der Universität Wien:
Frauen gehörten zu den Pionier*innen der Kinematographie in Österreich. Sie waren u. a. Schaustellerinnen, Kinobetreiberinnen, Filmvorführerinnen, Produzentinnen, Regisseurinnen, Schauspielerinnen, Verleiherinnen (…) Das Kinowesen scheint aus der Perspektive der Frauen für partnerschaftliche Berufsausübung, aber auch für gesellschaftliche Neuorientierungen, Brüche und Autonomiebestrebungen zu stehen. Adelige und großbürgerliche Frauen führten selbständig Kinos neben der Erwerbstätigkeit ihrer Männer und auch Quereinsteigerinnen aus anderen Sparten, wie die Theaterschauspielerin Mizzi Schäffer, sind in der Kinobranche nicht selten (…)
Ein Blick auf die Konzessionsvergaben zeigt, dass ein Drittel und in manchen Zeitspannen in einzelnen Bezirken die Hälfte der Kinokonzessionen in den Händen von Frauen waren (…) Aus einigen Berufsfeldern des Kinobetriebs sind jedoch durchaus Widerstände und Diskriminierungen belegt. Beispielsweise forderten die Vertreter der Kinooperateure (Filmvorführer) auf der Kino-Enquete 1912, Frauen von der Zulassung für die Bedienung des Projektionsapparates auszuschließen (…)
Sperrgasse 2: Äußerlich saniertes Haus vor Abriss?
Hinter dem Kino liegt ein Biedermeierhaus, das geschätzt im frühen 19. Jahrhundert erbaut wurde. Die Fassade macht einen gepflegten Eindruck, die Farbe erscheint relativ frisch, die Fenster sind unauffällig. Schäden sind von außen keine erkennbar. Auch dieses Gebäude dürfte gefährdet sein. Im Grundbuch scheint bei beiden Gebäuden als Eigentümer die Mariahilfer Straße 160 Vermietungs GmbH auf, die auf eine Adresse in Wien-Floridsdorf registriert ist.
Architekturbehörde für Erhalt
Beide Gebäude fallen unter eine 2018 im Gemeinderat beschlossene Gesetzesnovelle, die einen Abbruch-Schutz für Häuser dieses Baualters vorsieht. Ohne Zustimmung der Magistratsabteilung 19 (Architektur und Stadtgestaltung) darf nicht mehr so einfach abgerissen werden wie früher. Die Behörde hat keine Zustimmung zum Abbruch gegeben.
Warum die Behörde dem Gebäude in der Sperrgasse 2 eine Bedeutung für das Stadtbild zuschreibt, ist leicht nachzuvollziehen: Es liegt in einem Ensemble aus drei Häusern, die alle aus etwa derselben Zeit stammen. Das seltene Erscheinungsbild des ehemaligen Kinos auf der Mariahilfer Straße wiederum ist für sich schon Grund genug, um die Schutzwürdigkeit zu rechtfertigen.
2024: Leerstand
Auch mehr als ein Jahr nach dem Erscheinen dieses Artikels steht das Gebäude immer noch leer, die Zukunft scheint ungewiss.
Wiener Gesetze: Alle Häuser "abbruchreif"?
Der Eigentümer der Häuser hat bei der Baubehörde um Abriss aufgrund von „Abbruchreife“ angesucht. Damit kann die Entscheidung der Architekturbehörde umgangen werden. Abbruchreife bedeutet, dass ein Gebäude angeblich nicht mehr wirtschaftlich zu sanieren sei. Ermittelt wird das durch private Gutachten, die von den zuständigen Behörden (MA 25, MA 37) akzeptiert werden. Beide Abteilungen gehören zum Wohnbauressort von Stadträtin Kathrin Gaál (SPÖ).
Abbruchverfahren werden also auf der Grundlage von Gutachten entschieden, die jene beauftragt und bezahlt haben, die Häuser abreißen wollten. In Wien gibt es kein Gesetz, dass die Behörden dazu verpflichtet, einen unabhängigen Sachverständigen (Gutachter) zu beauftragen, der das Gutachten des Eigentümers und das betroffene Haus vor Ort prüft.
Die Folge davon ist, dass viele Häuser offenbar leichtfertig zum Abriss freigegeben werden. Alleine in der näheren Umgebung ist das gleich mehrfach zu beobachten. Nur wenige Hausnummern entfernt – Sperrgasse 13 – wurde im Februar 2023 ein Altbau abgerissen. Ein halbes Jahr zuvor traf es ein Gründerzeithaus in der nahen Kranzgasse. Gleich drei nebeneinander liegende Altbauten in einer Parallelgasse (Rosinagasse 10-14) sind bereits zum Abbruch freigegeben. Alle genannten Beispiele wurden von der Architekturbehörde (MA 19) als erhaltenswert eingestuft.
Dass der wirtschaftliche Druck auf Altbauten im 15. Bezirk extrem hoch ist, ist schon seit vielen Jahren bekannt. 2018 wurden zwei Biedermeierhäuser in der Mariahilferstraße abgerissen, obwohl sie anfangs noch bewohnt waren. Extrem schwerwiegend war auch die Zerstörung eines großen Historismus-Baus am Mariahilfer Gürtel. Nachhaltige Schlüsse hat die Politik daraus nicht gezogen.
Ende 2024
Im September 2024 wurden Plakate einer Abbruchfirma angebracht. Steht jetzt der Totalabriss bevor?
Laut Bezirksvorstehung sei der Abriss genehmigt:
Für das gesamte Gebäude musste eine Abbruchbewilligung wegen wirtschaftlicher Abbruchreife erteilt werden. Die Bauwerber gaben gegenüber der Fachdienststelle der Stadt Wien an, dass sie sich trotz Abbruchbewilligung um eine Sanierung bemühen werden, vor allem beim Trakt in der Sperrgasse.
Kontakte zu Stadt & Politik
- SPÖ: kontakt@spw.at, Tel. +43 1 535 35 35
- ÖVP: info@wien.oevp.at, Tel. +43 1 51543 200
- Die Grünen: landesbuero.wien@gruene.at, Tel. +43 1 52125
- NEOS: wien@neos.eu, Tel. +43 1 522 5000 31
- FPÖ: ombudsstelle@fpoe-wien.at, Tel. +43 1 4000 81797
(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
Fotos, Infos
- Kino Handl auf wien geschichte wiki
- KinTheTop (Webseite über Kinos in Wien)
- Wiener Kinos in Frauenhand (Junges Forschungsnetzwerk Frauen- und Geschlechtergeschichte, 19.10.2020)
- Irma Handl – eine fast vergessene Kinopionierin (Blog des Bezirksmuseums Rudolfsheim-Fünfhaus, 11.5.2020)
- Kinematographische Rundschau, 20.4.1913, S. 55 (Werbung des Handl Kinos)
- Kinematographische Rundschau, 4.1.1914, S. 61 (Werbung des Handl Kinos)
- Neues Wiener Tagblatt (Tages-Ausgabe), 26.4.1944, S. 5 (Todesanzeige von Irma Handl)
- Foto Mariahilferstraße 160 (1952) auf der Webseite der ÖNB
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