Mariahilfer Straße 127: Zierde zwischen den Zeiten

Bei dem Gebäude an der Ecke von Mariahilfer Straße und Gürtel wurde der Fassadenschmuck in der Nachkriegszeit weitgehend zerstört. 2021 bekam die Fassade auf eine Initiative der Wiener Immobilienfirma 3Si neuen Dekor. Eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes aus dem Jahr 1897 ist aber nicht erfolgt.

Jahrhundertwendehaus mit Werbetafeln in Wien-Mariahilf
Beim Jahrhundertwendehaus in der Mariahilfer Straße 127 wurde 2021 neuer Fassadendekor angebracht.

Entkleideter Altbau

Ein Fünftel des Häuserbestandes in Wien wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört oder beschädigt, viele Häuser wurden nicht oder nur vereinfacht wiederaufgebaut. Die Folgen lassen sich bis heute im Stadtbild ausmachen. Aber nicht bei allen Altbauten, die offensichtlich nicht mehr im Originalzustand sind, stehen kriegsbedingte Schäden dahinter. In den 1950er- und 1960er-Jahren wurde von tausenden Häusern der Fassadendekor abgeschlagen. Diese brutale „Modernisierung“ wurde bis heute nicht rückgängig gemacht. Nur in sehr wenigen Fällen erhielten alte Häuser nach Jahrzehnten wieder ihr ursprüngliches Antlitz zurück, zum Beispiel in der Neustiftgasse (7. Bezirk).

Auch das markante Eckhaus Mariahilfer Straße 127, an der Ecke zum Gürtel, gehört zu jenen Häusern, die ihren Fassadendekor eingebüßt haben.

Gebäude, Werbungen am Dach, vereinfachte Fassade, Wien-Mariahilf, Gürtel
Mariahilfer Straße 127 (erbaut 1897) vor der Adaptierung der Fassade (Foto: 2019, Herzi Pinki, CC BY-SA 4.0)

Die Fassade zum Gürtel wurde in der Nachkriegszeit abgeschlagen. Erhalten hat sich nur die Front zur Bürgerspitalgasse (Foto unten).

Fassade eines Altbaus mit Dekor
Fassade zur Bürgerspitalgasse mit (wahrscheinlich) originalem Dekor (Foto: 2024)

Fassade erneuert

Die Wiener Immobilienfirma 3Si ließ die Fassade umbauen. Neuer Dekor wurde angebracht, wobei man sich offensichtlich am noch erhaltenen Fassadenrest in der Bürgerspitalgasse orientiert hat. Dazu der Bauherr 3Si:

Besonderes Hauptaugenmerk wurde (…) auf die Fassadensanierung und -rekonstruktion gelegt. Die nahezu schmucklose, gürtelseitig ausgerichtete Fassade wurde mit handgefertigtem Stuck umfangreich ergänzt und dadurch der anderen Fassadenseite optisch angepasst, Balkongeländer im Stil Alt-Wien erneuert, Quaderungen und Lisenen neu angebracht. Durch die neu angebrachte Fassadenbeleuchtung erstrahlt die in einem zarten Beige neu gestrichene Fassade nun auch nachts. (…)

Im Eingangsbereich und Stiegenhaus wurden handgefertigter Stuck und prunkvolle Spiegel an bis dato kahlen Wänden angebracht, alte Holzfenster neu lackiert, in Wien produzierte Messingluster und Wandleuchten im Stil „Alt Wien“ montiert, Metalltüren mit Holvertäfelungen verkleidet und, dem neuen alten Charme des Hauses entsprechend, ein roter Teppich samt Holzhandlauf im Eingangsbereich angebracht. [1]

Neuer Dekor

Die für Wien typischen Ausschmückungen um die Fenster wurden an der ganzen Front hinzugefügt. Der neue Fassadenschmuck ist vergleichsweise flach und kein originalgetreues Replikat. Verwunderlich ist der Dekor um die in der Nachkriegszeit hinzugefügten Fenster im obersten Geschoß.

Gebäude Ecke Mariahilfer Straße Gürtel
Mariahilfer Straße 127 (Foto: 2022)

Bei der Wahl des neuen Dekors wurden Anleihen an der wahrscheinlich noch original erhaltenen Front in der Bürgerspitalgasse genommen. Im direkten Vergleich zeigen sich Abweichungen und Vereinfachungen (siehe unten). Von einer Rekonstruktion kann nicht gesprochen werden.

So hat das Haus ursprünglich ausgesehen

Eine Rekonstruktion des Originalzustandes vom Baujahr 1897 ist nicht erfolgt – und wäre auch schwer zu realisieren gewesen, da das oberste Geschoß abgetragen und durch ein aufwendiges Dach ersetzt werden müsste. Zudem haben sicherlich finanzielle Erwägungen dazu beigetragen, von einer exakten Rekonstruktion abzusehen. Aufnahmen, die eine Wiederherstellung erlauben würden, existieren aber. Auf dem Foto unten ist in der Mitte die alte Fassade einige Jahre vor der Zerstörung zu sehen.

Mariahilferstraße, Bürgerspitalgasse, Mariahilfer Gürtel, Nachkriegszeit
1951: Bürgerspitalgasse/Gürtel, Fassade des großen Eckgebäudes kurz darauf bei Renovierung zerstört (Foto: ÖNB)

Das nächste Foto dürfte wenige Jahre nach der Errichtung des Gebäudes entstanden sein. Zu sehen ist die prachtvolle Front zum Gürtel im Ursprungszustand:

Fassade in der Nachkriegszeit zerstört

Auf einer Aufnahme aus den 1960er-Jahren zeigt das Haus schon sein später bekanntes Gesicht. Der Großteil des Dekors und das alte Dach waren da bereits entfernt worden.

Über dem Eingang in der Bürgerspitalgasse – die nicht abfassadierte Seite – ist eine Jahreszahl eingefügt. Ist 1957 das Jahr der destruktiven Renovierung?

reich geschmücktes Portal eines Jahrhundertwendehauses
Portal in der Bürgerspitalgasse (Foto: 2024)

Quellen, Fotos

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