Am Mariahilfer Gürtel wurde 2018 ein prachtvolles Gründerzeithaus aus dem 19. Jahrhundert abgerissen. An der Stelle des demolierten Gebäudes steht seit Ende 2020 ein Hotel mit minimalistischer Fassade. Beworben wird die Holzkonstruktion, hervorgehoben die Nachhaltigkeit des Baustoffs.
Doch wie nachhaltig kann es sein, ein Gebäude einfach abzureißen und an seiner Stelle von Grund auf neu zu bauen? Ist das nicht gleich doppelter Ressourcenverbrauch – zuerst der Schutt des Altbaus, dann die Rohstoffe für den Neubau? Ging es vielleicht doch eher darum, möglichst viele niedrige Geschoße in einen nicht allzu großen Bauplatz zu pressen?
Hinweis: Dieser 2021 erschienene Artikel wurde im Jänner 2023 mit neuen Fotos ergänzt.
Historismus am Mariahilfer Gürtel
Der Mariahilfer Gürtel muss einst ein schöner Ort gewesen sein. Wo heute zwischen Westbahnhof und Wienzeile eine unaufhörliche Verkehrslawine hindurchdonnert, fuhren früher Straßenbahnen und Fuhrwerke. Noch im frühen 20. Jahrhundert waren sämtliche Straßen gleichsam „Begegnungszonen“, Fußgänger konnten also überall auch auf der Straße gehen. Hier einige alte Fotos vom Mariahilfer Gürtel (auf denen das 2018 abgerissene Haus aber nicht zu sehen ist).
Die prächtigen Häuser, die hier bis heute überdauert haben, stammen aus der Zeit vor 1900. An vielen Ecken reiht sich ein gut erhaltener Altbau an den anderen.
Auch am Mariahilfer Gürtel Nr. 33 stand bis 2018 ein Gründerzeithaus, das wahrscheinlich im späten 19. Jahrhundert erbaut worden war. Wie bei den Nachbarhäusern war die Fassade im Stil des Historismus gehalten – also jenem Stil, in dem auch die Palais und öffentlichen Gebäude der Ringstraße errichtet wurden. Aber während der erste Bezirk seit langem im Fokus der Altstadterhaltung steht und für den Tourismus schick hergerichtet wurde, fristet der Gürtel bis heute ein Schattendasein.
Mariahilfer Gürtel 33: bis 2018 original erhalten
Die Fassade des Gebäudes war zuletzt schon etwas renovierungsbedürftig, doch immer noch vollständig erhalten. Einschließlich der vielen architektonischen Details wie Erker, Giebel und dem markanten Gesims.
Keine Schutzzone am Mariahilfer Gürtel
Die Wiener Behörden betreiben eine zum Teil öffentlich zugängliche Datenbank („Gebäudeinformation“), in der Infos zu vielen Gebäuden enthalten sind. Darunter häufig auch Details wie Baujahr, Architekt und Verweise auf die Fachliteratur.
Das Gebäude am Mariahilfer Gürtel 33 wurde 1999 in diese Datenbank eingetragen. Obwohl die Bedeutung des Hauses und seiner Nachbarhäuser also schon damals bekannt war, wurde bei der letzten Umwidmung auf eine Schutzzone vergessen. Besonders verhängnisvoll, denn das Gebäude stand auch nicht unter Denkmalschutz (das Denkmalamt ist eine Bundesbehörde). Wie beim Denkmalschutz hätte eine Schutzzone (für die die Stadt Wien zuständig ist) den Abriss wahrscheinlich verhindert.
2005 wurde über diese Umwidmung im Gemeinderat abgestimmt. Es kam zwar zu einer Debatte, doch wurde die viel zu kleine Schutzzone von keiner Fraktion angesprochen. Wie bei jeder politischen Abstimmung ist unklar, ob sich die Mandatare überhaupt mit den Details des Plan beschäftigt haben. Hätten sie einen Blick in die Studie von 1996 geworfen, wäre das Fehlen von Schutzzonen am Mariahilfer Gürtel aufgefallen. Der Studie zufolge ist fast der ganze 15. Bezirk für die Schutzzone geeignet.
Wer ist schuld am fehlenden Ensembleschutz?
Warum immer wieder auf Schutzzonen vergessen wird, lässt sich nicht so einfach sagen. Scheitert es an den zuständigen Stadträten? An einzelnen Beamten? An den Bezirksvorstehern? An undurchsichtigen wirtschaftlichen Interessen?
Eindeutig sind jedenfalls die Folgen von fehlenden Schutzzonen und zu hohen Bauklassen – nämlich Abrisse vom historischen Gebäuden. So geschehen beispielsweise im 19. Bezirk (Weinzingergasse, Döblinger Hauptstraße), 9. Bezirk (Sobieskigasse, Borschkegasse) und im 15. Bezirk (Mariahilfer Straße 166-168, Neubaugürtel, Goldschlagstraße). Und auch beim Gründerzeithaus am Mariahilfer Gürtel 33.
Abriss kurz vor Gesetzesverschärfung
Der Juni 2018 ist für die Altstadterhaltung in Wien von doppelter Bedeutung: Erstens gilt seitdem ein besserer gesetzlicher Abriss-Schutz für alle Altbauten. Zweitens hatte die Ankündigung dieser Gesetzesänderung für kurze Zeit hektisches Treiben bei Eigentümern und Investoren ausgelöst. Zahlreiche alte Häuser wurden noch rasch vor Inkrafttreten der Bauordnungsnovelle demoliert.
Auch das Gründerzeithaus am Mariahilfer Gürtel 33 traf Ende Juni 2018 der Abriss. „Die Bauschande von Wien“ titelte die Kronenzeitung. Der Abriss war aber völlig im Einklang mit der damaligen Gesetzeslage.
Abriss im Juni 2018
Der Abriss dauerte nur wenige Tage, aber das genügte, um fast das gesamte Gebäude abzutragen.
Hotel folgt auf Gründerzeithaus
Am Bauplatz des Gründerzeithauses wurde ein Hotelneubau errichtet. Das erinnert an einen Fall am Wiedner Gürtel im Jahr 2016, wo ebenfalls ein Gründerzeithaus zugunsten eines Hotels demoliert worden war (siehe Artikel).
Ein Hotel richtet sich – wenig überraschend – an Touristen. Warum ist Wien bei Touristen aus aller Welt beliebt? Sicherlich wegen der vielen historischen Gebäude. Was werden dann wohl die Gäste des neuen Hotels sagen, wenn sie erfahren, dass ein schönes Gründerzeithaus für ein schlichtes Hotel geschleift worden ist?
Tourismusamt und Bezirk über Neubau erfreut
Der Wiener Tourismusverband ist die offizielle Stelle bei der Stadt Wien, die sich um die Bewerbung der Stadt als Reiseziel kümmert. Auf der Webseite von Wien Tourismus ist Folgendes zum Neubau am Mariahilfer Gürtel zu lesen:
Wien ist eine grüne Stadt und da gehören moderne und nachhaltige Hotels natürlich dazu (…) Ende 2020 soll am Mariahilfer Gürtel das einzigartige und besonders klimafreundliche Hotel bezugsfertig sein: Alles aus Holz und grün durch und durch. 1.500 Fichten aus nachhaltig bewirtschafteten Wäldern sind der Baustoff des Hotels und sollen Wald-Feeling in die Stadt bringen. Nachhaltig und effizient: Jeder Baum wird zu 100 Prozent verarbeitet.
Der Bezirksvorsteher von Rudolfsheim-Fünfhaus äußert sich zum neuen Hotel auf diese Weise (auf waldbauer.at):
Das ist nicht nur ein Fortschritt für den Tourismus, sondern auch für das Stadtklima, denn neben alternativen Verkehrs- und Begrünungskonzepten sind innovative Ansätze in der Bauindustrie gefragt, um unseren CO2-Ausstoß zu reduzieren.
Dass für den Neubau ein Gründerzeithaus abgerissen wurde, bleibt dabei unerwähnt. Doch natürlich hatten weder Tourismusamt noch Bezirksvorstehung die Wahl zwischen Altbau und Neubau.
Nachhaltigkeit als Vorwand für Abriss?
Die oben erwähnten Vorzüge des Neubaus sollen an dieser Stelle gar nicht in Zweifel gezogen werden. Aber vielleicht braucht es doch noch eine etwas umfassendere Sicht auf das Thema.
Nachhaltigkeit und Klimaschutz sind ja heute in aller Munde. Kaum ein Unternehmen und kein Politiker kommt mehr ohne den Verweis auf die Umwelt aus. Werden im Fall des Hotels am Mariahilfer Gürtel aber nicht einige fundamentale Punkte vergessen?
- Der Bau eines Gebäudes erfordert beträchtliche Ressourcen. Auch die Errichtung des Gründerzeithauses hatte nicht wenige Rohstoffe verbraucht.
- Durch den Abriss des Altbaus sind die Ressourcen, die in der Bausubstanz gespeichert waren, zu Schutt geworden. Gerade die Baumaterialien von Gründerzeithäusern (v. a. Ziegel) können nur sehr begrenzt wiederverwendet werden. Im Prinzip also ein Fall für die Deponie.
- Auch der Neubau des Hotels hat Ressourcen verschlungen. Nicht nur die Rohstoffe selbst (darunter Beton), sondern auch Energie. Also ergibt sich zusammen mit dem Abriss des Altbaus gleich ein doppelter Verbrauch.
- Als Vorteil von Neubauten wird oft eine gute Wärmedämmung angeführt (beim vorliegenden Beispiel übrigens nicht). Doch sind dicke alte Mauern mit modernen Fenstern nicht auch effizient? Wozu braucht es überhaupt immer mehr Schutz gegen Kälte, wenn es ohnehin immer wärmer wird? Und wer sich stattdessen gegen Hitze wappnen will, muss sich in erster Linie um den öffentlichen Raum kümmern (weniger Asphalt, mehr Bäume).
- Touristen und Geschäftsleute nutzen nicht selten das Flugzeug zur Anreise. Die massiven Umweltprobleme der Luftfahrtindustrie sind bekannt. Sind alleine dadurch diverse Öko-Bemühungen bei Hotelgebäuden nicht eigentlich fast schon hinfällig?
Ob es manchmal also doch mehr um geschickte Vermarkung geht?
Ein "neues Wahrzeichen"
„In Wien wächst ein neues Wahrzeichen.“ Mit diesen Worten wird das Hotel auf der eigens eingerichteten Webseite beworben. Und weiter:
Erholungsgebiet, Lebensraum, Arbeitsplatz – ein Wald kann alles sein. Wie auch The Wood. Denn wer hier eincheckt, hat meistens etwas zu tun. Und ist trotzdem völlig entspannt. Wie das geht? Vielleicht, weil man im The Wood keine Fragen stellen muss. Weil man hier nicht sucht, sondern ganz einfach findet (…)
Flächenmaximierung als eigentliches Ziel?
Wenn es um die eigentlichen Gründe für Abrisse geht, ist einer ganz oben: Im Neubau lässt sich mehr Fläche unterbringen. Mehr Stockwerke, niedrige Raumhöhen, maximale Ausnutzung des Grundstücks. Statt der vier Geschoße des Altbaus hat der Neubau ganze sieben (inkl. Dach).
Die Bebauungspläne schreiben nur maximal erlaubte Bauhöhen vor, aber nicht die maximale Anzahl an Geschoßen. Die Folgen: Altbauten mit hohen Räumen werden abgerissen, Neubauten mit niedrigen Raumhöhen errichtet. So stechen viele neue Häuser nicht nur durch ihre manchmal unattraktive Architektursprache hervor, sondern auch durch vollkommen andere Geschoßhöhen.
Die Fotos unten wurden 2022 aufgenommen, als das Hotel bereits geöffnet hatte:
Das Problem der Neubauarchitektur
Aus rein ästhetischer Sicht – nicht aber bzgl. Ressourcen – wären die Abrisse von gut erhaltenen Altbauten weniger ein Problem, wäre die Architektur von Neubauten nicht häufig so ausdrucksarm bzw. schmucklos. Die Wiener Architektur der Gegenwart scheint zwischen zwei Polen zu oszillieren: Zwischen der nüchternen Wiederholung der 1960er und 1970er (z. B. Alserbachstraße 26) und einer geradezu krampfhaften Modernität (bspw. in Ottakring und der Seestadt Aspern). Für weitere Beispiele siehe Bestürzende Neubauten.
Ganz anders war das um 1900: Da wurde mittels Abriss und Neubau oftmals sogar eine baukünstlerische Aufwertung erreicht (z. B. Neubaugasse 38 vorher und nachher).
Die jungen Wiener Altbauten
Zurück zum Mariahilfer Gürtel 33: Der Verfasser dieser Zeilen kann natürlich nicht wissen, in welchem Zustand der Altbau im Frühjahr 2018 war. Dass ein Haus nach mehr als hundert Jahren allerlei Sanierungsmaßnahmen braucht, versteht sich von selbst. Doch das Haus stand nicht alleine, sondern in einer Zeile aus ähnlichen Gebäuden aus ungefähr derselben Zeit. So ist etwa das Nachbarhaus saniert. Dass nun gerade ein einzelnes Haus eines ganzen Häuserblocks nicht mehr sanierbar gewesen sein soll, erscheint nicht unbedingt wahrscheinlich.
Und überhaupt: Die Wiener Gründerzeithäuser sind eigentlich vergleichsweise jung. Die aufwendigen Fassaden erwecken vielleicht den Anschein hohen Baualters, doch sind die allermeisten Altbauten kaum älter als 150 Jahre. Damit sind sie hunderte Jahre jünger als ihre Vorbilder – die Palazzi der italienischen Renaissance. So wurden die noch heute erhaltenen Gebäude im Zentrum von Florenz vielfach um 1500 erbaut. Der Palazzo Strozzi, der auch heute noch steht, fungierte vielleicht auch als Vorbild für das monumentale Gebäude in der Wiener Löwelstraße. Letzteres ist aber rund 350 Jahre jünger.
Auch die Gebäude in der Salzburger Altstadt sind beispielsweise viel älter als die Wiener Gründerzeithäuser. Ähnliches gilt für viele spanische Stadtzentren und auch für zahlreiche Häuser im 1. Wiener Gemeindebezirk.
Damit ist das mögliche Argument, das Haus am Mariahilfer Gürtel sei einfach zu alt für eine moderne Nutzung gewesen, nicht recht nachvollziehbar. Oder würde man die historischen Zentren in den europäischen Städten einfach alle kurzerhand abreißen, weil sie „zu alt“ sind? Wäre das wirklich im Sinne eines nachhaltigen Umgangs mit Ressourcen und mit dem baukulturellen Erbe? Sanfte Renovierungen und maßvolle Ausbauten sind in den meisten Fällen bestimmt die verträglichere Option.
Kontakte zu Stadt & Politik
- SPÖ: kontakt@spw.at, Tel. +43 1 535 35 35
- ÖVP: info@wien.oevp.at, Tel. +43 1 51543 200
- Die Grünen: landesbuero.wien@gruene.at, Tel. +43 1 52125
- NEOS: wien@neos.eu, Tel. +43 1 522 5000 31
- FPÖ: ombudsstelle@fpoe-wien.at, Tel. +43 1 4000 81797
(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
Quellen und weitere Infos
- Fotos von Erich J. Schimek (Initiative Denkmalschutz): flickr.com/photos/id_ejs/sets/72157692810903761/
- Wien bekommt ein neues Hotel mit Waldflair (2020): kurier.at/wirtschaft/immobiz/wien-bekommt-ein-neues-hotel-mit-waldflair/401017628
- Wiens top Öko-Hotels (Wiener Tourismusverband): wien.info/de/sightseeing/gruenes-wien/nachhaltige-hotels
- Holzhotel am Wiener Gürtel (2020): derwaldbauer.at/praxistipps/bauen-mit-holz/2020/06/holzhotel-am-wiener-guertel.html
- Foto Palazzo Strozzi: flickr.com/photos/bleedingfred/514473347/
- Foto Löwelstraße 20: MrPanyGoff, Löwelstraße 20 – Vienna, CC BY-SA 3.0
WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum.
Wenn Sie mir etwas mitteilen möchten, können Sie mich per E-Mail und Formular erreichen. WienSchauen hat auch einen Newsletter: