Original anno 1905
Ende des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert erlebte Wien einen beispiellosen Bauboom. Ganze Stadtviertel wurden neun hochgezogen, niedrige alte durch höhere neue Häuser ersetzt. Wien wurde Millionenstadt und blühte kulturell auf, zugleich waren soziale Probleme virulent, darunter die Wohnungsnot. In diese Zeit fällt auch die Errichtung des Gebäudes am Stubenring 2, am heutigen Julius-Raab-Platz (früher: Aspernplatz).
Geplant wurde das 1905 errichtete Gebäude von Jakob Gartner (1861-1921), einem um die Jahrhundertwende vielbeschäftigen Architekten, der auch Pläne für zahlreiche Synagogen entwarf. Das Architektenlexikon des Wiener Architekturzentrums:
Jakob Gartner erbaute äußerst repräsentative Gebäude für das großstädtische Bürgerturm. In der Konzeption der Häuser blieb er dem traditionellen Schema treu und erzielte mit palaisartigen Gestaltungsweisen jene Formulierungen, mit der die häufig erst in neuester Zeit zu Reichtum gekommene Klientel sich auch gesellschaftlich entsprechend zu positionieren suchte. Die Fassaden sind meist mit kräftigen Gesimsen horizontal gegliedert, was dem Anspruch auf Monumentalität Ausdruck verleiht (…). Durch den Einsatz secessionistischer Motive, die in das konventionelle Schema eingefügt sind, konnten sich die Bauherren entsprechend dem Stil der „gemäßigten Moderne“ jedoch auch als fortschrittsfreudig und modern präsentieren (…)
Fassade zerstört
Im Kriegsschadenplan ist ein leichter Schaden eingezeichnet. Wurde auch die Fassade beschädigt? Auf einem Foto von 1952 (unten) ist eine deutliche Veränderung im Vergleich zum zehn Jahre älteren Foto (oben) erkennbar. Die Balkone an der Frontseite fehlen, das Dach ist vereinfacht worden. Vielleicht eine Folge des Wiederaufbaus nach dem Krieg? War der Schaden entsprechend groß?
Zu einer weiteren Veränderung kam es irgendwann nach 1952. Der Fassadendekor wurde restlos abgeschlagen, es erfolgte eine Anpassung an die sachliche Nachkriegsarchitektur. Nur die Balkone an den beiden Seiten blieben in vereinfachter Form erhalten.
Neuer Dekor
Das erste Foto unten zeigt den Zustand vieler Wiener Häuser nach dem Wiederaufbau bzw. den brutalen Sanierungsmaßnahmen der Nachkriegszeit. Bei tausenden Häusern wurde der Dekor ohne Not abgeschlagen, sodass diese Häuser äußerlich oft nur durch die Höhe der Geschoße von Nachkriegsbauten zu unterscheiden sind. Beim Gebäude am Stubenring 2 kam es irgendwann (um die 2000er-Jahre?) zu einer erneuten Änderung. Die Fassade wurde wieder adaptiert und in groben Zügen dem ursprünglichen Zustand angenähert.
Während die Fassaden der unteren beiden Stockwerke nach wie vor im Zustand der Nachkriegszeit verblieben sind, wurden auf den Etagen darüber gliedernde Elemente hinzugefügt.
Keine Rekonstruktion
Im folgenden Vergleich wird ersichtlich, dass es sich in diesem Fall um keine Rekonstruktion nach alten Plänen handelt (anders als etwa am Gaudenzdorfer Gürtel 47).
Die Bausubstanz scheint immer noch weitgehend dem Original zu entsprechen. Das Gewand der Jahrhundertwende ist aber dahin. Relativ neu ist hingegen das ausgebaute Dachgeschoß.
WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum. WienSchauen hat auch einen Newsletter: