Im 10. Bezirk wurde eine original erhaltene Fassade aus dem 19. Jahrhundert abgeschlagen. Seit dem unsanften Umbau im Jahr 2015 ist das Haus in der Nähe des Reumannplatzes von einem Neubau kaum noch zu unterscheiden. Die Zerstörung der 143 Jahre alten Ornamente war tatsächlich von den Behörden genehmigt worden.
Gründerzeit-Fassade abgeschlagen
Wer die Favoritenstraße entlangspaziert und am Reumannplatz vorbei zur kleinen Waldgasse kommt, wird wahrscheinlich nichts Auffälliges bemerken. Es überwiegen weite Asphaltflächen, Parkplätze und in grauen Sichtbeton eingefasste Grünflächen. Auch wenn es nicht so scheint – der öffentliche Raum wurde erst 2018 komplett neu gestaltet. Immerhin gibt es seither einen Radweg.
Auch das Gebäude in der Favoritenstraße 129 ist ziemlich unauffällig. Im Erdgeschoß ein Restaurant, darüber eine glatte Fassade, das Dach mäßig hübsch aufgestockt. Auf den ersten Blick könnte es sich fast um einen Neubau oder ein renoviertes Wohnhaus aus den 1950ern handeln. Doch das Haus hat nicht immer so ausgesehen wie heute.
Fassade bis 2015 original erhalten
Ein Blick zurück in die 1980er. Auf dem Foto unten ist ganz links die ursprüngliche Fassade aus dem Jahr 1872 zu sehen. Auch das später abgerissene Nachbarhaus (ebenfalls 1872 erbaut) stand damals noch. Beide Häuser wiesen den typischen Fassadendekor des 19. Jahrhunderts auf.
Das nächste Foto zeigt das Haus im Jahr 2014. Die hellgelb gestrichene Fassade macht einen frisch sanierten Eindruck. Trotzdem erfolgte ein Jahr später der verhängnisvolle Umbau. Und Stichwort Umbau: Der Bauträger dieses Namens hatte einige Jahre zuvor das Nebenhaus abgerissen und durch einen unattraktiven Neubau ersetzt.
Eine Schutzzone, die die Häuser erhalten hätte können, hatten Behörden und Politik übrigens nicht eingerichtet. Auch bei der letzten Umwidmung im Jahr 1998 wurde auf Schutzzonen vergessen.
Fassadenschmuck bei Umbau entfernt
2015 war das Schicksalsjahr für das Haus in der Favoritenstraße 129. Bis dahin war die alte Fassade auf der Seite der Favoritenstraße noch intakt. Nur der Fassadenschmuck an der Front zur Waldgasse war schon lange vorher entfernt worden (vielleicht in der Nachkriegszeit).
Kein Umbau ohne Zustimmung der Behörden
Während das Haus zwei neue Geschoße erhielt, wurden auch die Ornamente auf der Fassade entfernt. Warum durfte die schön gegliederte Fassade einfach abgeschlagen werden?
Ohne die Zustimmung der Behörden sind Änderungen an Gebäuden jedenfalls nicht möglich:
Alle Änderungen des äußeren Erscheinungsbildes werden von der Abteilung Architektur und Stadtgestaltung hinsichtlich der gestalterischen Einfügung in das örtliche Stadtbild überprüft. Für die Erteilung einer Bewilligung wird diese architektonische Begutachtung in Form einer Stellungnahme oder eines Gutachtens an die zuständige Behörde (Baupolizei) weitergeleitet.
Behörden erlauben Demolierung
Die Baupolizei antwortete auf eine Anfrage zum Haus in der Favoritenstraße folgendermaßen:
Die baulichen Änderungen samt Dachgeschoßzubau (…) wurden mit Bescheid vom 7. November 2014 (…) bewilligt. Die baulichen Änderungen umfassen auch die thermische Sanierung des Gebäudes.
Im Zuge des Bewilligungsverfahrens wurde eine Stellungnahme der MA 19 – Architektur und Stadtgestaltung eingeholt. In dieser wurde festgehalten, dass durch die thermische Sanierung der Fassade (ohne Erhaltung der gegliederten Fassadenelemente) das Stadtbild (…) weder gestört noch beeinträchtigt wird.
Warum ist das genehmigt worden?
Zwei Abteilungen hatten also mit der Genehmigung des Umbaus zu tun. Die Behörde für Architektur und Stadtgestaltung (MA 19), die zum Planungsressort gehört, und die Baupolizei (MA 37), die Teil des Wohnbauressorts ist. Planungsstadträtin war zu der Zeit Maria Vassilakou (Grüne), Wohnbaustadtrat war Michael Ludwig (SPÖ).
Beiden Politikern wird man aber kaum eine Schuld an der Zerstörung der Fassade geben können. In Wien werden jedes Jahr hunderte Häuser neu- und umgebaut. Es ist nicht zu erwarten, dass Details zu all diesen Projekten auf den Tischen der Stadträte landen, die ja noch für viele andere Abteilungen zuständig sind. Woher sollten die Stadträte auch die Zeit und die Detailkenntnis haben, um sich damit umfassend zu beschäftigen? Das Problem dürfte vielmehr in der Verwaltung gelegen haben.
Eine Erklärung für die Entscheidung der Behörde könnte sein, dass nur eine Fassadenfront des Hauses vollständig erhalten war, aber nicht die gesamte. Auch die heterogene Bebauung in der Umgebung könnte ein Grund gewesen sein. Das Umfeld ist geprägt durch Gründerzeithäuser (darunter viele mit fehlendem Fassadenschmuck) und nach 1945 errichtete Gebäude.
Dennoch: Die Behörden hätten die Möglichkeit gehabt, die Gründerzeitfassade zu erhalten. Da die Fassade ohnehin renoviert war, wäre auch dem Eigentümer kein Aufwand entstanden.
Die glatte Zeit
Während im 19. Jahrhundert auf das äußere Erscheinungsbild von Gebäuden viel Wert gelegt wurde, regiert im 21. Jahrhundert ein anderes Paradigma: glatte Fassaden ohne Schmuck und fast ohne Gliederung.
In gewisser Weise hat sich in der äußeren Favoritenstraße ein neues Ensemble gebildet. Haus Nr. 127 wurde abgerissen und durch einen Neubau ersetzt, die Fassade von Haus Nr. 129 wurde geglättet.
Ganz selten gibt es auch gegenläufige Entwicklungen: Im 3. Bezirk hat ein Gründerzeithaus im Jahr 2020 seine wohl in der Nachkriegszeit abgeschlagene Fassade zurückbekommen. Der Dekor wurde detailgetreu rekonstruiert (siehe Artikel).
Favoriten: Architektur am Abstellgleis?
Favoriten ist mit über 200.000 Einwohnern der größte Wiener Bezirk. Schon in der Gründerzeit war der Zehnte ein klassischer Arbeiterbezirk. Im Zuge des damaligen Wirtschaftsbooms wuchs die Bevölkerung stark – und entsprechend intensiv wurde gebaut. Die vielen noch heute erhaltenen Häuser aus dem späten 19. Jahrhundert sind ein Zeugnis jener Zeit.
Ganze Straßenzüge mit historischen Fassaden gibt es in Favoriten aber nur vereinzelt. Umso größere Bedeutung kommt jenen Häusern zu, die noch weitestgehend im ursprünglichen Zustand sind. Demnach ist es unverständlich, dass es im 10. Bezirk fast keine Schutzzonen gibt. In Schutzzonen sind Abrisse und grobe Veränderungen von Gebäuden deutlich erschwert. Bereits in den 1970ern wurden die rechtlichen Grundlagen für diesen wichtigen Ensembleschutz geschaffen. Trotzdem müssen vor allem die Außenbezirke noch Jahrzehnte danach auf die Einrichtung von Schutzzonen warten.
Auf der Karte unten ist zu sehen, wie wenige Schutzzonen es im 10. Bezirk gibt:
Viele Gebäude nicht mehr erhalten
Vom Glanz der alten Fassaden ist in Favoriten vielerorts nur noch wenig zu spüren. Die Gründe:
- Kriegszerstörungen: Im 10. Bezirk befanden sich schon früher Bahnhöfe und zahlreiche Fabriken. Entsprechend stark waren die Bombenangriffe im 2. Weltkrieg. Viele Häuser wurden zerstört oder schwer beschädigt.
- Fassaden demoliert: Bei Renovierungen in der Nachkriegszeit wurde alter Fassadenschmuck häufig abgeschlagen. Ornamente waren aus der Mode gekommen und es galt, nach dem Krieg möglichst kostengünstig Wohnraum zu schaffen.
- Keine Schutzzonen: Die Altstadterhaltung hat sich jeher auf das Stadtzentrum konzentriert. Obwohl die Stadt Wien seit den 1970ern Schutzzonen festlegen kann, sind in den Außenbezirken nur wenige Häuser auf diese Weise vor Abrissen und groben Umbauten geschützt.
- Fehlende Initiative der Lokalpolitik: Auch die Bezirkspolitik hat über Jahr(zehnt)e offenbar kein besonderes Interesse an Schutzzonen geäußert. Dabei kann jede Partei einen Antrag auf neue Schutzzonen stellen.
Im Folgenden einige Beispiele für das Abriss- und Neubaugeschehen im 10. Bezirk.
Laxenburger Straße: Historische Gebäude abgerissen
2018 ist die verschärfte Wiener Bauordnung in Kraft getreten. 2020 wurden trotzdem zwei historische Gebäude am Neuen Landgut bei der Laxenburger Straße abgerissen (Details hier).
Keine Schutzzonen für Gösserhalle
Ebenfalls am Neuen Landgut stehen zwei historische Hallen, darunter die Gösserhalle. Auch sie waren zum Abriss vorgesehen gewesen. Dem Vernehmen nach hatten Teile der Stadtregierung und der Bezirkspolitik einen Abbruch unbedingt durchsetzen wollen.
Ob der Abriss vielleicht doch noch kommt? Eine Schutzzone wurde bei der Umwidmung im Jahr 2020 jedenfalls nicht eingerichtet (siehe Artikel).
Historische Fabrik weicht Wohnblock
Der 10. Bezirk war und ist ein wichtiger Industriestandort. Auch die österreichischen Brown, Boveri Werke hatten in Favoriten ihren Sitz. Das historische Backsteingebäude in der Gudrunstraße, wo sich das Elektrotechnik-Unternehmen einst befand, gibt es heute aber nicht mehr. Es musste 2015 einem Wohnblock weichen (Architekt: Leopold ZT GmbH).
Die grauen Neubauten
Die Architektur verändert sich und jede Zeit bringt ihre eigenen Bauten und Stile hervor. Bis etwa in die späten 1950er-Jahre war diese Entwicklung auch kein Problem. Doch seit den 1960ern gelingt es Architekten und Bauträgern immer seltener, langfristig attraktive neue Häuser zu schaffen. Einige Neubauten in Favoriten:
So könnte es anders gehen
All die in diesem Artikel gezeigten Entwicklungen sind nicht unausweichlich. Durch geeignete Gesetze und behördliche Verfahren können alte Häuser besser erhalten und Neubauten attraktiver werden. Einige Vorschläge:
- Mehr Schutzzonen: Verpflichtende Prüfung und ggf. Widmung von Schutzzonen bei jeder Umwidmung.
- Korrekte Bauklassen: Anpassung der maximal erlaubten Bauhöhen auf die tatsächliche Höhe der Häuser (bei erhaltenswerten Gebäuden). Damit wird wirtschaftlicher Druck von diesen Häusern genommen.
- Erhalt von Gebäuden statt teure Garagenpflicht: Entfall der Stellplatzverpflichtung bzw. Ausgleichsabgabe für nachweislich erhaltenswerte Gebäude, v. a. in Schutzzonen. Zu-/Umbauten und Dachausbauten sollen so gefördert werden.
- Förderung für Eigentümer: Höherdotierung des Altstadterhaltungsfonds
- Weiterbau des charakteristischen Stadtbildes: Harmonische Einordnung der Fassadengestaltung von Neubauten an die umgebende – also für das jeweilige Grätzl maßgebliche – Bebauung. Bei Neubauten in Schutzzonen bzw. in überwiegend vor 1945 errichteten Umgebungen.
- Belebte Erdgeschoßzonen: Mindesthöhe für das Erdgeschoß festlegen, Nutzungsoffenheit per Gesetz oder Bebauungsplan festschreiben
- Schönere Außenhaut: Beschränkung des Einsatzes von durchgehenden Glasfassaden, Verbot von Sichtbeton bei straßenseitigen Fassaden
- Aufwertung des Gestaltungsbeirats: Verpflichtende Prüfung aller Neubauentwürfe durch einen politisch und wirtschaftlich unabhängigen Gestaltungsbeirat. Arbeit im Beirat muss entsprechend vergütet werden, Mehrheit der Mitglieder muss von außerhalb Wiens/Österreichs sein (um wirtschaftliche Abhängigkeit zu vermeiden, inkl. Cooling-off-Phase). Fixierte Quote für Personen aus den Bereichen Denkmalpflege, Architekturgeschichte, Kunst und Design. Beirat muss Entwürfe auch adaptieren und ablehnen können.
- Abbruchverfahren müssen nachvollziehbar sein: Hinzuziehen des Denkmalamts bei (angeblicher) Abbruchreife erhaltenswerter Gebäude, Akteneinsicht auch für NGOs (sofern rechtlich möglich), regelmäßige Prüfung durch den Stadtrechnungshof.
Kontakte zu Stadt & Politik
- SPÖ: kontakt@spw.at, Tel. +43 1 535 35 35
- ÖVP: info@wien.oevp.at, Tel. +43 1 51543 200
- Die Grünen: landesbuero.wien@gruene.at, Tel. +43 1 52125
- NEOS: wien@neos.eu, Tel. +43 1 522 5000 31
- FPÖ: ombudsstelle@fpoe-wien.at, Tel. +43 1 4000 81797
(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
- Foto Gudrunstraße 187: Buchhändler, Gudrunstraße 08, CC BY-SA 3.0
- Die Rechte an dem Foto, das die erhaltene Fassade des Hauses Favoritenstraße 129 hinter dem Gerüst zeigt, ließen sich nicht ermitteln.
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