Mitten in Ottakring wurden 2018 drei Häuser aus dem 19. Jahrhundert in der Lindauergasse (Ecke Thaliastraße) abgerissen. Doch der Abriss kam alles andere als plötzlich. Warum wurde nicht rechtzeitig eingegriffen, um die historischen Gebäude zu schützen? Und warum wurde mehr als 20 Jahre lang verabsäumt, den kostbaren Häuserbestand aus der Gründerzeit nachhaltig abzusichern?
Hinweis: Dieser Artikel wurde mehrfach ergänzt und erweitert (zuletzt im Dezember 2021).
Ein Grätzl mit Geschichte
Die Gegend zwischen Brunnenmarkt und Bezirksamt (Richard-Wagner-Platz) ist ein klassisches Produkt der Gründerzeit. Teils aufwändige Stuckfassaden, eine durchgehend dichte Bebauung, Geschäfte im Erdgeschoß und rasterartige Straßenverläufe verweisen auf das ausgehende 19. Jahrhundert. Es war eine Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs und enormen Bevölkerungswachstums. Aber auch eine Zeit von Bauspekulation, Bettgehern und hoffnungslos überbelegten Wohnungen.
Geblieben bis heute sind die Familiennamen der seinerzeitigen Einwanderer – ein Drittel der Wiener Bevölkerung stammte damals aus nicht-deutschsprachigen Gebieten – und die vielen kunstvollen Wohnhäuser. Mitten in diesem gründerzeitlichen Bezirksteil liegt auch die Lindauergasse, die die Thaliastraße und Ottakringer Straße miteinander verbindet. Doch wo bis vor einigen Monaten noch drei prächtige Wohnhäuser standen, ist nur noch eine riesige Baulücke geblieben.
Abrisspläne seit 2017 bekannt
Noch vor einigen Jahren hätte wohl niemand gedacht, dass es den drei Häusern an den Kragen gehen könnte. Die Fassaden waren in gutem Zustand, von größerem Leerstand nichts zu sehen. Im Eckhaus an der Thaliastraße hatte bis zuletzt ein Brautmodengeschäft geöffnet. Nebenan ging es pikanter zu – hier befand sich ein Stundenhotel.
Anfang 2017 kam dann der Paukenschlag. Ein großer Wiener Bauträger kündigte auf seiner Internetseite ein „neues modernes Wohnprojekt“ an – an Stelle der drei Gründerzeithäuser. Von Sanierung des Altbestandes und Dachausbau war nichts zu lesen. Die Ottakringer Bezirksvorstehung und Bezirkspolitik wurden zu dieser Zeit über den geplanten Abriss informiert.
Demolieren leicht gemacht
Ob die Bezirksvorstehung schon frühzeitig über die Pläne des Bauträgers gewusst hat, lässt sich aus zwei Gründen nicht mit Sicherheit sagen:
(1.) Bis vor wenigen Monaten waren Abrisse außerhalb von Schutzzonen ohne Bewilligung möglich. Mit einer Bauanzeige drei Tage im Voraus ließ sich jedes noch so kunstvolle historische Gebäude abreißen. Das hatte zur Folge, dass über Jahre hinweg hunderte Gründerzeithäuser in ganz Wien aus dem Stadtbild verschwanden.
(2.) Viele Neubauprojekte müssen erst durch die Bauausschüsse der Bezirke. Diese Ausschüsse finden aber unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Es gibt kein öffentlich einsehbares Protokoll. Niemand außer den Mitgliedern erfährt, was besprochen und beschlossen wird. Ob der Fall Lindauergasse vielleicht schon 2017 im Bauausschuss behandelt wurde?
Kein Schutz für alte Häuser im 16. Bezirk
„Während in Wien kein Baum ohne Genehmigung gefällt werden darf, erlaubt die aktuelle Bauordnung den Abriss historischer Häuser (…), wenn diese außerhalb von Schutzzonen stehen“, schreibt die Journalistin Nina Kreuzinger über das bis Juni 2018 geltende Gesetz. In Ottakring befinden sich nicht einmal 3% der Häuser in solchen Schutzzonen.
„Aufgrund der aktuellen Flächenwidmungspläne sowie des Fehlens von Schutzzonen ist ein großer Teil des 16. Bezirks zum Abriss freigegeben“, so Kreuzinger weiter. Auch in der Lindauergasse gibt es bis heute weit und breit keine Schutzzone, obwohl sich Gründerzeithaus an Gründerzeithaus reiht.
Das Bezirksparlament kann jedoch durch einen Beschluss neue Schutzzonen beantragen. Im Gegensatz zu vielen anderen Bezirken wurde diese Option in Ottakring über viele Jahre hinweg nicht genutzt. Die wenigen vorhandenen Schutzzonen stammen alle noch aus den 1990er-Jahren.
Warum handelt der Bezirk nicht?
Monate nach der ersten Nachricht wurde die Bezirksvorstehung erneut gebeten, das Thema Schutzzonen und Altstadterhaltung nicht auf die lange Bank zu schieben. Die Uhr für die drei Gründerzeithäuser tickte, doch hätte die Zeit wahrscheinlich noch gereicht, um eine Bausperre zu verhängen. Damit wäre Zeit bis zur Einrichtung einer Schutzzone gewonnen worden.
Abrisswelle rollt über Ottakring
Das Thema Abrisse ist in Ottakring seit langem hochaktuell: Zwei Gründerzeithäuser in der Speckbachergasse, das Ottakringer Landhaus, ein Jugendstilgebäude in der Heigerleinstraße und unzählige weitere Altbauten gibt es heute schon nicht mehr.
„Die Abrisswelle ist eine baukulturelle Tragödie. Bis heute gibt es allerdings keine konkreten Gegenmaßnahmen der Stadtpolitik“, so Reinhard Seiß im Falter. „Leider kommt beim Wandel von Alt zu Neu selten etwas Besseres nach, weder in architektonischer, noch in urbanistischer Hinsicht“, bemerkt der Stadtplaner.
Bezirk: Parteien wollen Schutzzonen
Im April 2018 kam – ein Jahr nach den ersten Infos über den geplanten Abriss – erstmals Bewegung in die Bezirkspolitik. Gleich mehrere Anträge auf Schutzzonen wurden einstimmig beschlossen. SPÖ, FPÖ, Grüne, NEOS und Wien Anders forderten Schutzzonen für die Heigerleinstraße und den Bereich um das abgerissene Ottakringer Landhaus. Ein Antrag der FPÖ für eine Schutzzone für die Gegend um das Amtshaus – hier dürfte auch die Lindauergasse dazu gehören – fand ebenfalls allgemeine Zustimmung.
Rathaus: Rot-Grün verschärft Bauordnung
Im Rathaus wurde der Ernst der Lage erkannt. Im Frühjahr 2018 kündigte die Koalition einen besseren Schutz für alte Häuser an. Eine von Planungsstadträtin Maria Vassilakou bereits 2015 versprochene Änderung der Bauordnung wurde damit auf Schiene gebracht. Die damals noch von Michael Ludwig geäußerten Vorbehalte gegen die Verschärfung dürften indes ausgeräumt worden sein. Damit kam die Stadtregierung einer langjährigen Forderung von Denkmalschützern nach.
Wien im Abrissfieber: Fehlende Schutzzonen rächen sich
Im Juni 2018 regierten in ganz Wien die Abrissbagger. Wer seinen Altbau jetzt noch loswerden wollte, musste sich sputen, denn die Verschärfung der Bauordnung wurde kurzerhand um Monate vorgezogen. Die Koalition wollte auf diese Weise offensichtlich einer noch größeren Abrisswelle zuvorkommen. Dutzende historische Gebäude gingen binnen kürzester Zeit für immer verloren, darunter ein riesiges historistisches Wohnhaus im 15. Bezirk, ein Vorgründerzeithaus in der Zieglergasse und das „Sperl“-Haus aus der Biedermeierzeit. Selbst an zwei noch bewohnten Häusern arbeiteten die Abbruchmaschinen (Radetzkystraße 24-26 und Mariahilfer Straße 166-168).
Auch Ottakring war in Aufruhr. Vom Jugendstilhaus in der Heigerleinstraße war bald nichts mehr übrig. In der Lindauergasse rückte die Abrissfirma an und trug die Dächer aller drei Häuser ab. Hätte es Schutzzonen gegeben, wäre das alles nicht passiert.
Gesetz gegen Abbrüche kommt
Ende Juni trat die Verschärfung der Bauordnung in Kraft. Die Baupolizei stoppte sofort alle Abrisse – auch im 16. Bezirk. Die Häuser in der Lindauergasse schienen gerettet.
Das neue Gesetz erlaubt Abrisse alter Gebäude nur noch, wenn es sich um keine architektonisch bzw. historisch wertvollen Häuser im Sinne des Stadtbilds handelt. Abrisse sind an die Zustimmung der Magistratsabteilung 19 (Architektur und Stadtgestaltung) gekoppelt.
Die Tragweite dieser Gesetzesänderung kann wahrscheinlich kaum überschätzt werden. Während die Themen Heumarkt-Hochhaus und Weltkulturerbe alle Medien beherrschen, wird oft gar nicht wahrgenommen, wie sehr die Stadt durch die neue Abriss-Bestimmung Stadtbild und Altbaumieter nachhaltig schützt. Das neue Gesetz könnte die effektivste Maßnahme seit Einführung des Schutzzonen-Paragraphen im Jahr 1972 sein.
Klage gegen Baustopp erfolgreich: Abriss
Beim Häusertrio in der Lindauergasse kam der Eigentümer jedoch dem neuen Gesetz zuvor. Auf Anfrage teilten Bezirksvorstehung und Baupolizei mit, der Baustopp sei vom Verwaltungsgericht aufgehoben worden. Die Crux dürfte der bereits begonnene Abbruch gewesen sein, der nach den alten Bestimmungen rechtmäßig war. Somit griff die verschärfte Bauordnung noch nicht.
Im November 2018 setzte die Abbruchfirma den Abriss fort. „Ich wurde von der MA 37 zur MA 19 hin und her geschickt, ohne Auskunft zu bekommen“, erklärte eine Anwohnerin, die von den plötzlichen Abrissarbeiten überrascht wurde, dem Kurier.
So sind auch zwei Werke des Architekten Thomas Hofer verloren gegangen; das 1883 erbaute Haus in der Lindauergasse 2/Thaliastraße 56 und das 1878 errichtete Gebäude Bachgasse 5.
Ein undurchsichtiges Gefüge
Der Dreifachabriss lässt viele Fragen offen: Warum wurden die Schutzzonen über so viele Jahre hinweg nie vergrößert? Warum wurden bei der letzten Änderung des Flächenwidmungsplans im Jahr 2003 keine Schutzzone eingerichtet? Warum hat sich die Bezirkspolitik nicht viel früher für neue Schutzzonen ausgesprochen? Warum hat die Bezirksvorstehung nicht bei der ersten Nachricht über den drohenden Abriss reagiert? Und lässt sich nicht auch von privaten Unternehmen ein gewisser Respekt gegenüber dem baukulturellen Erbe einfordern?
Mit der verschärften Bauordnung sollte es zumindest in Zukunft schwerer werden, historisch wertvolle Gebäude abzureißen. Ob und wie das in der Praxis funktioniert, werden wir sehen.
2020: Der Neubau wächst
Nach dem Abriss startete der Bau des neuen Gebäudes.
2021: Neubau fertig
Nach rund zwei Jahren Bauzeit ist das neue Gebäude fertig. Die Veränderung könnte nicht größer sein. Wo zuvor drei einzelne Gebäude mit dekorierten Fassaden standen, ist nun ein einzelner langer Baukörper. Besonders die Seite zur Thaliastraße ist geradezu abweisend – vor allem durch die großen Mauerflächen.
Der Neubau sich durch eine minimalistische Gestaltung aus.
Hier der Vorher-Nachher-Vergleich an der Ecke zu Bachgasse:
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(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
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