Treviso ist einen Besuch wert. Von der nahe Venedig gelegenen Stadt mit ihren rund 85.000 Einwohnern lässt sich viel lernen. Architektur und besonders der öffentliche Raum im Stadtzentrum sind beeindruckend. Die hohe Baukultur Italiens ist hier besonders spürbar.
In diesem Artikel geht es vor allem um den öffentlichen Raum (Teil 1). Einige Anmerkungen zur Nachkriegsarchitektur sind weiter unten (Teil 2).
Teil 1: Öffentlicher Raum
Bei den Straßen und Plätzen fallen u. a. folgende Punkte auf:
- Verkehr reduziert: Das Zentrum der Stadt ist teilweise verkehrsberuhigt. Es darf also nicht jeder mit dem Pkw in die Stadt hineinfahren. Überwacht – und ggf. gestraft – wird über ein Kamerasystem.
- Mehr Platz für Fußgänger: Auf etlichen Plätzen und Straßen sind keine oder nur wenige Parkplätze eingerichtet.
- Schöne Plätze: Einige historische Plätze sind ganz oder teilweise autofrei.
- Kein Asphalt: Grauer Asphalt, wie in anderen Städten üblich, ist im Stadtzentrum nicht verlegt. Verschiedene Arten von Pflasterungen mit Naturstein verleihen den alten Plätzen ein hochwertiges Erscheinungsbild.
- Belebte Erdgeschoßzonen: Die Straßen und Plätze sind voll mit Geschäften und Lokalen. Die Erdgeschoßzone funktioniert, was auch den vielen Arkadenhäusern zu verdanken ist.
- „Bedeutsame Belanglosigkeiten“: Straßenlaternen, Bodenbeläge, Schutzgitter und andere Dinge im Stadtraum sind sehr hochwertig.
Piazza dei Signori
Der lebendige Platz im Zentrum wird beherrscht von einem alten Palazzo. Das Umfeld ist autofrei bzw. verkehrsreduziert, einige Seitengasse sind Fußgängerzonen. Interessant sind auch die formschönen Straßenlaternen.
Piazza Indipendenza
In der Mitte des kleinen Platzes, der direkt an die Piazza dei Signori anschließt, befindet sich eine Statue, die im 19. Jahrhundert anlässlich der Unabhängigkeit der Provinz von Österreich-Ungarn errichtet wurde.
Der öffentliche Raum ist folgendermaßen eingerichtet: Die Pflasterung zieht sich durch und verbindet die Fußgängern vorbehaltene Platzmitte mit den Rändern. Das Zentrum des Platzes ist optisch durch Pflastersteine von der Umgebung abgehoben – aber nicht in Gestalt durchgehender Barrieren. An zwei Seiten schließt der Platz direkt an die Gebäude der Umgebung an, auf den anderen Seiten verlaufen Straßen. Die Piazza Indipendenza ist ein gutes Beispiel dafür, wie ein Platz funktionieren kann, auch wenn teilweise der Autoverkehr vorbeifahren muss.
Via Calmaggiore
Eine Straßenverbindung im Stadtzentrum, verbindet die Piazza dei Signori mit dem Dom. Wie in norditalienischen Städten häufig zu finden sind sämtliche Häuser mit Arkaden ausgeführt, die Erdgeschoße sind entsprechend belebt (Geschäfte, Lokale). Autos können in der Mitte durchfahren, Parkplätze gibt es keine, die Seitengasse sind Fußgängerzonen.
Via San Leonardo
Eine kurze Straße, die über eine Brücke in die Stadt hineinführt. Hier beginnt die zona traffico limitato – der verkehrsreduzierte Bereich. Busse, Fußgänger und Radfahrer haben Vorrang. Zufahrt mit dem Auto ist nur nach Genehmigung möglich (für Anrainer usw.), unerlaubtes Einfahren wird mit Geldstrafen sanktioniert.
Corso del Popolo
Eine der vergleichsweise großen Straßen im Stadtzentrum. An einigen verkehrsreichen Stellen ist ein ästhetisch ansprechendes Schutzgitter montiert, das Gehsteig und Fahrbahn trennt.
Via Martiri della Libertà
Eine Straße in der verkehrsbeschränkten Zone. Auch hier dürfen nur Anwohner, Busse usw. zufahren.
Piazza Santa Maria dei Battuti
Ein kleiner Platz, der gänzlich autofrei ist. Attraktive Pflasterung, belebte Erdgeschoßzonen.
Piazza dell'Università
Ein kleiner Platz neben einem Universitätsgebäude. Der Boden ist hier besonders schön. Bei der schmalen Grünfläche auf der rechten Seite fließt ein Kanal.
Piazza San Vito
Ein interessanter Platz, der an zwei Seiten an der Bebauung „hängt“ und so eine öffentliche Nutzung jenseits des Pkw-Verkehrs erlaubt. Der Verzicht auf Asphalt und bauliche Trennung zwischen Fahrbahn und Platzmitte wirkt sich positiv auf das Erscheinungsbild aus.
Viale Cadorna
Eine kurze Straße etwas außerhalb des verkehrsbeschränkten Zentrums. Fußgänger haben links und rechts breite Wege, Parkplätze gibt es nur begrenzt (aber einige Halteplätze). Formschöne Schutzgitter, hochwertige Pflasterung und Straßenbeleuchtung bilden ein harmonisches Gefüge mit den Gebäuden. Einige interessante Nachkriegsbauten fallen auf (siehe Teil 2 weiter unten).
Kleine Gassen
Bedingt durch die frühe Urbanisierung und das Bevölkerungswachstum vor dem Aufkommen des Automobils sind viele Straßen und Gassen in italienischen Städten sehr schmal. In Treviso sind diese Gassen entweder Fußgängerzonen oder per Pkw nur für Anrainer relevant bzw. erreichbar. Zumindest ganz im Zentrum sind viele Gassen auch nicht zugeparkt (weiter außerhalb aber schon).
Verkehr und Stadtgestaltung
Etliche italienische Städte setzen seit langem auf Zufahrtsbeschränkungen für Pkw (zona traffico limitato) und auf Fußgängerzonen (area pedonale).
Im Zentrum Trevisos wird gerne radgefahren; eine gute Infrastruktur wie in den Niederlanden oder Dänemark gibt es aber nicht. Auch der öffentliche Verkehr erscheint mangelhaft. Von der einst verkehrenden Straßenbahn sind nur historische Aufnahmen geblieben.
Ebenfalls auffallend ist der Mangel an Bänken und konsumfrei nutzbaren Sitzgelegenheiten. Gerade dieser Punkt ist wichtig, denn der öffentliche Raum gehört allen – nicht nur jenen, die einkaufen und einkehren wollen.
Wie in vielen italienischen Städten fehlt es auch in Treviso teilweise an Begrünung. Das kann auch mit der dichten Bebauung und den schmalen Straßen zu tun haben, die die Pflanzung von Bäumen verhindern. Vielleicht sind auch ausgedehnte Kellerräume oder unter den Straßen verlaufende Leitungen und Rohre ein Grund. Immerhin schützen enge Gassen vor sommerlicher Hitze, denn direkte Sonne erreicht das Straßenniveau und die unteren Geschoße dadurch weniger.
Treviso liegt am Fluss Sile, der in die Adria mündet.
Auf schönen Steinen gehen
Es ist nicht nötig, an einem krankhaften Buckel zu leiden, um die Wichtigkeit schöner Bodenbeläge zu schätzen zu wissen. Der gesenkte Blick lohnt sich in jeder Stadt: So wird nämlich deutlich, welche Bedeutung attraktiven öffentlichen Räumen geschenkt wird. Während in Wien ganze Bezirke und auch viele historische Plätze oft kaum mehr als riesige Asphaltflächen sind, ist das in vielen europäischen Städten anders. Auch im und um das Zentrum von Treviso wird auf attraktive Beläge geachtet. Natursteine in allen Farben und Formen kommen zum Einsatz.
Vom Guten lernen
Was lässt sich aus der Stadtgestaltung von Treviso lernen? Was kann auf andere Städte übertragen werden. Hier einige Punkte:
- Weniger Autoverkehr im Zentrum: Nicht jeder muss mit seinem Pkw ins Zentrum einer Stadt fahren. Fahrzeuge brauchen immerhin viel Platz, der dann für andere Nutzungen fehlt (Begrünung, Radwege, Freiflächen usw.). Wo besonderes viele Menschen wohnen und unterwegs sind, ist eine Zufahrtsbeschränkung also sinnvoll.
- Mehr Platz für Fußgänger: Sind weniger Parkplätze eingerichtet und weniger Autos unterwegs, erhält die ursprünglichste Art der Fortbewegung – das Zufußgehen – wieder mehr Raum. Das kommt nicht nur der Gesundheit zugute, sondern auch der Kommunikation zwischen Menschen und natürlich auch den Geschäften und Lokalen.
- Autofreie oder autoreduzierte Plätze: Wenn der europäische Platz seinen Ursprung in der griechischen Agora (Forum) hat, dann lässt sich der Platz auch als Ausgangspunkt der Demokratie deuten. Das Zusammenkommen von Menschen, die Versammlung, der Austausch und der Handel sind mit dem Typus Platz untrennbar verbunden. Die Zweckentfremdung von Plätzen für bloße Parkplätze und Fahrbahnen unterbindet all das, was einen Platz eigentlich ausmacht.
- Kein Asphalt: Grauer Asphalt ist das Lieblingsmaterial, mit dem viele Städte ihre öffentlichen Räume zudecken. Asphalt ist ästhetisch unattraktiv und in Hinblick auf die Klimaerwärmung problematisch: Der darunterliegende Boden wird komplett versiegelt, Asphalt heizt sich stark auf (im Gegensatz zu Naturstein) und nach Bauarbeiten bleiben hässliche Streifen und Flecken zurück. Zumindest auf Gehsteigen und Plätzen muss Asphalt verschwinden. Zudem sollte Begrünung in allen Straßen zur Norm werden.
- Belebte Erdgeschoßzonen: Einkaufen und Restaurantbesuche sollten auch jenseits von abgelegenen und nur per Pkw erreichbaren Einkaufszentren möglich sein. Das stärkt zentrale Standorte (Ortszentren usw.) und vermindert motorisierten Individualverkehr. In vielen alten Stadthäusern sind die Erdgeschoße so gebaut, dass eine gewerbliche Nutzung möglich ist. Es ist wichtig, dass das auch in Neubauten berücksichtigt wird, wofür es entsprechende Gesetze braucht. Auch wirtschaftliche Starthilfen für Unternehmen, die sich neu in diesen Flächen ansiedeln, sind sinnvoll.
Teil 2: Nachkriegsarchitektur
Die in antik-römischer Zeit als Tarvisium gegründete Stadt hat eine bewegte Geschichte hinter sich, die noch heute an der vielfältigen Architektur ablesbar ist. Neben der für viele italienische Städte typischen historischen Architektur mit sehenswerten Gebäuden aus der Renaissance fällt auch die Architektur der Nachkriegszeit auf. Die Lage im reichen Norden Italiens ist wohl der Grund, warum die Bautätigkeit auch direkt im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg nicht abgerissen ist.
Piazza Indipendenza 5
Auch im unmittelbarsten Zentrum wird das hohe Niveau der italienischen Nachkriegsarchitektur deutlich. Das Gebäude hinter der Statue ist kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs errichtet worden. Die Steinfassade, die Umrahmungen der Fenster, sowie das Gurtgesims zwischen Erdgeschoß und Obergeschoßen schaffen eine klassische Eleganz.
Camera di Commercio
Interessant ist auch die Handelskammer aus den 1950ern am Corso del Popolo. Auch hier wurde schöner Stein verwendet, der eine ansprechende Textur erzeugt.
Banca Cattolica del Veneto & Edificio RAS
Das Bankgebäude aus dem Jahr 1948 ist durch die Steinfassade, die quadratischen Fenster und viele Anleihen an die traditionelle Architektur (Brüstung, Arkaden, Fensterfaschen) interessant. Das Gebäude auf dem zweiten Foto wurde nur wenige Jahre danach errichtet. Die Form ist schon deutlich moderner, aber immer noch von Symmetrie geprägt und mit hochwertigem Fassadenmaterial ausgeführt.
Viale Cadorna 6
In der schon weiter oben erwähnten Viale Cadorna stehen einige interessante Nachkriegsbauten. Spannend ist zum Beispiel ein in den 1960ern errichtetes Wohnhaus, das trotz seiner beträchtlichen Baumasse erstaunlich harmonisch und freundlich wirkt: Die angenehmen Farben, die Symmetrie und die hervorgehobene Sockelzone (Erdgeschoß und erstes Obergeschoß) zeigen, dass sich auch ohne allzu viele Rückgriffe auf traditionelle Formen hervorragende Resultate erzielen lassen.
Viale Cadorna 3
Über dieses Gebäude haben sich keine näheren Informationen finden lassen. Stil und Material (Balkone aus Beton) lassen auf eine Errichtung kurz vor oder nach dem Zweiten Weltkrieg schließen. Markant sind wiederum Symmetrie und betontes Erdgeschoß.
Häuser aus den 1960ern
Die Gebäude auf den Fotos unten sind etwas jünger – errichtet in den späten 1960ern. Auch hier ist die architektonische Raffinesse schon auf den ersten Blick erkennbar. Die Fassaden haben eine klare Gliederung und sind alles andere als monoton. Wie bei den anderen Beispielen ist auch hier die Sockelzone markant hervorgehoben und mit Stein ausgeführt. Im Vergleich zu vielen um 1970 erbauten Wohnhäusern in anderen europäischen Ländern („Plattenbauten“) werden die Vorzüge dieser Gebäude besonders deutlich.
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Infos zu den Baujahren der Nachkriegsgebäude: Tra modernità e tradizione: gli edifici della ricostruzione postbellica nel centro storico di Treviso. Catalogazione, analisi e interpretazione – Tesi di Laurea (Vittoria Cavallini, 2017/2018)