Die schmale Rotenturmstraße war lange Zeit grau und wenig attraktiv gestaltet. Im Sommer 2019 wurde sie zur Begegnungszone umgebaut. Jetzt gibt es mehr Platz für Fußgänger, neue Bäume und eine schöne Pflasterung. Und trotzdem wäre eine kleine Fußgängerzone vielleicht besser gewesen. – Ein Vorher-Nachher-Vergleich.
Nadelöhr zwischen Stephansplatz und Schwedenplatz
Das herausgeputzte Wiener Stadtzentrum ist eigentlich ziemlich klein. Abseits von Kärntner Straße, Graben, Kohlmarkt und Stephansplatz gleicht das Bild des 1. Bezirks vielfach dem aller anderen Bezirke: Weite Asphaltflächen, schmucklose Hängeleuchten auf langen Drähten und viel zu wenige Bäume. Auch bereits wenige Meter hinterm Stephansdom wirkte der öffentliche Raum geradezu vernachlässigt. Noch bis zum Frühjahr 2019 war die schmale Rotenturmstraße geprägt von Parkplätzen, grauem Asphalt und engen Gehsteigen – obwohl hier rund 14 Millionen Personen Jahr für Jahr unterwegs sind.
Rotenturmstraße vor der Umgestaltung
Wenig Platz für Fußgänger
Genutzt wird die Rotenturmstraße täglich von über 38.000 Fußgängern und etwa 3000 PKW. Teilweise wurden laut Verkehrswissenschaftler Harald Frey sogar 60.000 Passanten pro Tag gezählt. Nachdem in einem Auto kaum mehr als eine Person sitzt (statistisch: 1,16), sind also etwa 11-mal so viele Leute zu Fuß unterwegs als mit dem PKW, in starken Tagen bis zu 17-mal so viele.
Auch beim Platzverbrauch zeigte sich – vor dem Umbau zur Begegnungszone – ein stark ungleiches Verhältnis: Für parkende und fahrende KFZ standen etwa 3200 m² zur Verfügung, für Fußgänger 3800 m². Würde sich die Nutzung der Fläche am tatsächlichen Verhältnis Fußgänger vs. PKW orientieren, blieben den PKW im Extremfall weniger als 400 m² übrig.
Neugestaltung als Politikum
Die Initiative zur Neugestaltung der Rotenturmstraße ging von den Grünen aus, die bereits 2015 für eine Begegnungszone warben. Danach war es lange still um das Projekt. Im Hintergrund dürfte es hitzige Debatten zwischen der ÖVP-geführten Bezirksvorstehung und der rot-grünen Stadtregierung gegeben haben. So wurde die neue Rotenturmstraße im November 2019 auch ohne Bezirksvorsteher Markus Figl eröffnet, der die mangelnde Rücksicht auf die Wünsche des Bezirks und den Wegfall von Parkplätzen kritisierte.
Begegnungszone kommt
Jetzt ist die Rotenturmstraße eine Begegnungszone; Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer teilen sich gleichberechtigt die Straße. Gefahren werden darf nicht schneller als 20 km/h. Durch den Wegfall von Parkplätzen ist neuer Raum für Bäume, Bänke und Fußgänger entstanden. Das Gedränge auf den Gehsteigen zwischen Auslagen und parkenden Autos gehört damit weitgehend der Vergangenheit an. In gewisser Weise ist jetzt auch der Zustand der Jahrhundertwende wiederhergestellt, denn schon damals war die Rotenturmstraße de facto eine Begegnungszone (siehe Fotos unten).
Wäre Fußgängerzone besser gewesen?
Die Rotenturmstraße ist quasi die Verlängerung der Kärntner Straße in Richtung Schwedenplatz. Für belebte Einkaufsstraßen haben sich seit den 1970ern Fußgängerzonen als erfolgreich erwiesen. Verkehrsexperte Harald Frey sprach sich deswegen für den Umbau der Rotenturmstraße zur Fußgängerzone aus. Der Vorschlag wurde von der Politik jedoch nicht aufgegriffen, zu groß dürfte die Sorge vor dem Entfall der Durchfahrt für KFZ gewesen sein. So ist die Rotenturmstraße weiterhin vom PKW-Verkehr geprägt:
Parkplätze trotz Verkehrsberuhigung
So hat sich am PKW-Verkehr auch durch den Umbau wenig geändert. Der größte Teil der Straße bleibt für Fußgänger in Stoßzeiten nur eingeschränkt passierbar, leichter wird es abends und sonntags. Zudem gibt es außerhalb festgelegter Kernzeiten weiterhin Parkplätze, zusätzlich noch ganztägige Stellplätze für Taxis. Dabei befinden sich in der Umgebung der Rotenturmstraße über 3000 Garagenplätze.
Während Parkplätze im ländlichen Raum und am Stadtrand kaum ins Gewicht fallen, kann es im dicht verbauten innerstädtischen Raum schnell zu Problemen kommen: Bis zu 15 m² nimmt ein abgestelltes Fahrzeug in Anspruch. 95% der Zeit sind private PKW bloße „Stehzeuge“, was in den engen Gassen des 1. Bezirks besonders auffällt.
Seit 2018 laufen Diskussionen über ein neues Verkehrskonzept für die gesamte Innere Stadt. Die schwierigste Frage ist wohl: Sind Zufahrtsbeschränkungen für Nicht-Anrainer nach dem Vorbild italienischer Städte denkbar? Soll jeder mit seinem eigenen Fahrzeug in das kleine Stadtzentrum einer 1,8-Millionenstadt weiterhin hineinfahren dürfen oder nicht?
So hat sich die Rotenturmstraße verändert
In Summe ist die Rotenturmstraße trotz des weiterhin beträchtlichen motorisierten Verkehrs deutlich attraktiver geworden. Die 16 neuen Bäume werden langfristig zur Senkung der Temperaturen in den immer heißeren Sommern beitragen. Dass es nun keinen Höhenunterschied mehr zwischen Gehsteig und Fahrbahn gibt, kommt besonders Rollstuhlfahrern und Personen mit Kinderwägen zugute. Durch die neue Pflasterung ist der öffentliche Raum zudem stark aufgewertet. Die folgenden Fotos zeigen, wie sich die Rotenturmstraße innerhalb weniger Monate gewandelt hat.
Asphaltfläche wird zum urbanen Platz
Mehr Platz zum Gehen
Pflasterung statt Asphalt auf Gehsteigen
Mehr Platz für Fußgänger und Bäume
Alles auf einer Ebene
Bäume statt Parkplätze
Mehr Platz für Fußgänger
Schöne Gestaltung vor historischer Architektur
Kreuzung wird zum Platz
Aufgeräumter Fleischmarkt
Neues Tor zum 1. Bezirk
Trotz Begegnungszone viel PKW-Verkehr
Noch mehr Fotos von der Begegnungszone
Wie geht's weiter im 1. Bezirk?
Die Rotenturmstraße ist fertig. Erst der direkte Vergleich zwischen vorher und nachher führt vor Augen, wie groß das Potential vieler Wiener Straßen, Gassen und Plätze ist. Zumindest für den Schwedenplatz liegt schon ein fertiger Plan vor. Nachdem mittlerweile selbst die Wiener Wirtschaftskammer für mehr Begegnungszonen und Umgestaltungen eintritt, ist wohl auch für viele andere Plätze und Straßen noch nicht das letzte Wort gesprochen.
Kontakte zu Stadt & Politik
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Die Bezirksvorstehungen sind die politischen Vertretungen der einzelnen Bezirke. Die Partei mit den meisten Stimmen im Bezirk stellt den Bezirksvorsteher, dessen Aufgaben u.a. das Pflichtschulwesen, die Ortsverschönerung und die Straßen umfassen.
- SPÖ: kontakt@spw.at, Tel. +43 1 535 35 35
- ÖVP: info@wien.oevp.at, Tel. +43 1 51543 200
- Die Grünen: landesbuero.wien@gruene.at, Tel. +43 1 52125
- NEOS: wien@neos.eu, Tel. +43 1 522 5000 31
- FPÖ: ombudsstelle@fpoe-wien.at, Tel. +43 1 4000 81797
(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
Quellen und weitere Infos
- Die Zahl von 14 Millionen Passanten pro Jahr findet sich im „Kurier“ (31.8.2018).
- Laut der Studie von Yasmin Haase (TU Wien, 2018) sind durchschnittlich 38.621 Passanten pro Tag in der Rotenturmstraße unterwegs;
- Die (geschätzte?) Zahl von 3000 KFZ pro Tag und die Zahl von 60.000 Passanten pro Tag stammen von Harald Frey (Bezirkszeitung vom 18.5.2018) und finden sich auch in einer Presseaussendung des ÖAMTC
- Der Besetzungsgrad von PKW (durchschnittlich 116 Personen in 100 PKW) wird in einem Artikel des VCÖ genannt
- Die Berechnungen zu den Flächen der Rotenturmstraße wurden mittels des Flächenwidmungsplans der Stadt Wien angefertigt, es handelt sich um ungefähre Zahlen, die errechnete Fläche für PKW umfasst Parkplätze und Fahrbahn
- Zum Vorstoß der Grünen in der Inneren Stadt für eine Begegnungszone in der Rotenturmstraße siehe Standard (19.3.2015)
- Das in Diskussion befindliche Verkehrskonzept für die Innere Stadt ist im Standard vom 13.7.2018 besprochen.
- Zur Zahl der Garagenplätzen in der Umgebung siehe die Anmerkungen zum Artikel zur Wollzeile.
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