Brüssel: Ein Boulevard, der wieder zum Boulevard geworden ist

Der Boulevard Anspach in Brüssel ist seit 2015 eine riesige Fußgängerzone. Die Zeiten, in denen sich täglich tausende Autos durch die Straße im Stadtzentrum schoben, sind damit vorbei.

Dieser Artikel wurde mehrmals ergänzt (zuletzt im August 2024).

links Foto von 2009 mit Autoverkehr, rechts Foto von 2022 mit Fußgängerzone, Stadtzentrum von Brüssel mit Blickrichtung Place de Brouckère
Boulevard Anspach vor und nach der Umgestaltung (Foto links: Stephane Mignon, CC BY 2.0)

Im Brüsseler Stadtzentrum hat sich seit 2015 einiges getan. Zahlreiche Straßen und Gassen wurden verkehrsberuhigt, allem voran der Boulevard Anspach. Die bis dahin stark vom durchfahrenden Autoverkehr geprägt Straße ist zu einer der größten Fußgängerzonen Europas geworden. Das hat zu einer enormen Belebung des öffentlichen Raums geführt und die zerfahrene Brüsseler Altstadt wieder zusammengefügt.

Der Boulevard war aber immer schon im Wandel:

  • Um 1870 wurde der Fluss Senne eingehaust, wodurch eine Straße entstand – der Boulevard Anspach, anfänglich durchaus treffend noch Boulevard Central genannt. Der Fluss wurde später umgelenkt und fließt heute nicht mehr unterhalb der Straße.
  • Bereits auf den frühesten Fotoaufnahmen sind Straßenbahnen zu sehen. Wie auch anderswo in Europa wurden die allerersten Tramways von Pferden gezogen. Die Elektrifizierung erfolgte ab 1894. 1909 verschwanden die letzten Pferdestraßenbahnen aus dem Brüsseler Stadtbild.
  • Im frühen 20. Jahrhundert war der Boulevard Anspach ein „shared space“: Straßenbahnen, Automobile, Fußgänger und Radfahrer teilten sich den Straßenraum.
  • Ab den 1930ern nahm die Zahl der Automobile am Verkehr sichtlich zu.
  • Ab den 1950ern wurden in ganz Brüssel Straßenbahnen eingestellt und durch Buslinien ersetzt.
  • In den 1970ern wurden die Straßenbahn auf dem Boulevard Anspach unter die Erde verlegt („Premetro“) und die oberirdischen Schienen entfernt.
  • 2012 kam es zu Protestpicknicks gegen den Autoverkehr auf dem Boulevard. Kritisiert wurde die Belastung durch Lärm und Feinstaub. Daraufhin wurde die Straße jeden Sonntag autofrei gemacht.
  • 2015 wurde der Boulevard dauerhaft für den Autoverkehr gesperrt.
  • Von 2017 bis 2020 erfolgte die Umgestaltung und Begrünung auf einer Länge von rund 800 Metern. Radfahren ist weiterhin erlaubt. Knapp 28 Millionen Euro hat die Umgestaltung gekostet.

Von der Tram zum Auto, vom Auto zur Fußgängerzone

Der Boulevard Anspach ist durch unzählige Fotoaufnahmen aus vielen Jahrzehnten hervorragend dokumentiert. Dabei wird einerseits die Veränderung im Gebäudebestand evident – und damit auch die als Brüsselisierung bekannte Ersetzung von historischen Gebäuden durch Hochhäuser. Andererseits lassen sich auch die Veränderungen im Verkehr und der Gestaltung des öffentlichen Raums nachvollziehen. Um diese Aspekt geht es in diesem Artikel.

Das Foto unten ist aus den 1920er-Jahren. Die Straßenbahn war seinerzeit das wichtigste Verkehrsmittel. Noch waren die Straßen nicht so stark vom aufkommenden Automobilverkehr in Besitz genommen, dass Fußgänger sie nicht mehr ohne weiteres betreten konnten. So ergibt sich auch das Bild eines zusammenhängenden öffentlichen Raums, in dem Fahrbahnen und Gehsteige teils fließend ineinander übergehen.

Bourse, Bruxelles, historische Aufnahme, Straßenbahnen, viele Passanten
Place de la Bourse in den 1920ern

"Begegnungszone" um die Jahrhundertwende

Der Platz vor der Börse war schon zur Jahrhundertwende ein sehr belebter Ort:

belebte Straße in Brüssel, historische Aufnahme
vor 1908: Boulevard Anspach gegenüber der Börse (Foto: Rijksmuseum)

Straßenbahn als wichtigstes Verkehrsmittel

Auf dem folgenden Foto sind die elektrifizierten Straßenbahnen zu sehen, die ab 1894 die von Pferden gezogenen Vorgänger ersetzten. Auch das Automobil spielte damals bereits eine wesentliche Rolle. Interessant sich auch die Details in der Gestaltung des öffentlichen Raums: kunstvolle Laternen und Oberleitungsmasten, eine große Uhr in der Mitte des Platzes. Die Architektur der Gebäude und die „kleinen Dinge“ im öffentlichen Raum bildeten – zumindest aus heutiger Perspektive – eine ästhetische Einheit. Der öffentliche Raum war in den 1920ern, als das Foto entstand, für Fußgänger noch überall passierbar.

Place de la Bourse et Boulevard Anspach, Bruxelles
"Shared space" in den 1920ern: Straßenbahnen, Autos und Fußgänger auf dem Boulevard Anspach und Place de la Bourse

Das Automobil kommt

In den 1930ern nahm die Anzahl an Autos in den europäischen Städten stetig zu, der große Aufschwung kam ab den 1950ern. Die Place de Broukère weist auf dem folgenden Foto schon eine Tendenz auf, die viele Stadtplätze bis heute prägt: Eine Fußgängern vorbehaltene Mitte, die durch Fahrbahnen und Parkplätze von den Häusern abgetrennt ist. Ein solcher Platz hat seine früher noch eher gegebene Einheit eingebüßt.

um 1950: Place de Brouckère (Foto: Nathan Hughes Hamilton, CC BY 2.0)

Straßenbahn wandert in den Untergrund

Die seit der Jahrhundertwende verkehrende Straßenbahn wurde in den 1970ern zur Unterstraßenbahn (Premetro) umgebaut. Das hat das Straßenbild deutlich verändert und dem Kfz-Verkehr mehr Raum gegeben.

Platz vor der Brüsseler Börse 1908 und 2007, altes und neues Foto
Place de la Bourse (Foto links: Library of Congress; Foto rechts: Nadine Schlonies, CC BY-SA 1.0)

Auf dem Platz vor der Börse verkehrten lange Zeit zahlreiche Straßenbahnlinien. Heute befindet sich unterhalb des Platzes die Premetro-Station.

Börsegebäude in Brüssel, links Foto um 1900, rechts Foto aus 1980
Brüsseler Börse (Foto rechts: Michel Huhardeaux, CC BY-SA 2.0)

Autostraße

Noch 2014 gehörte der Platz vor dem Börsegebäude dem motorisierten Individualverkehr:

Börse in Brüssel, historisches Gebäude, Autos
2014: Platz vor der Börse - vor der Verkehrsberuhigung (Foto: Christine Chauvin, CC BY-NC 2.0)

Die Straße durchschnitt den Platz, sodass dieser seine zusammenhängende Gestalt verloren hatte.

Zebrastreifen und Kreuzung in Brüssel
2013: Zebrastreifen über die Autostraße vor der Börse (Foto: 罗布泊, CC BY 3.0)

Der großzügig angelegte Boulevard wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zu einer Transitroute, die das Zentrum der Altstadt faktisch in der Mitte zerteilte.

Boulevard Anspach 1916 und 2013
(Foto links: Nikolaj Knub, AarhusArkivet.dk; Foto rechts: 罗布泊, CC BY 3.0)

Fußgängerzone

Nach jahrelanger Diskussion wurde der Boulevard am 2015 zur Fußgängerzone. Das Wirtschaftsmagazin Bloomberg berichtete im Vorfeld:

The move would transform a handsome but car-snarled four-lane boulevard and a string of squares into a long, café-filled promenade. This new zone will join up with an existing pedestrian zone in the narrow streets around the city’s Grand Place and Rue Neuve, turning Brussels’ core into a spacious, rambling open-air living room.

The change is long overdue. No European capital has been quite so ruined by motor vehicles as Brussels, which even last year was scorned by the French as a „sewer for cars.“ And the new plan is going over well with locals, meaning Brussels might finally gain its deserved place as a likable European city.

Fußgängerzone im Zentrum Brüssels, hinten Werbung für Coca Cola, dahinter ein Hochhaus, Transparent "Place au piéton! Voetganger koning!"
2.7.2015: der dritte Tag der Fußgängerzone (Foto: Miguel Discart, CC BY-SA 2.0)

Die nächste Aufnahme ist zwei Jahre nach der Sperre der Straße für den Kfz-Verkehr entstanden. Kurz darauf folgte der Umbau. Auf dem Foto wird ersichtlich, wie breit die Straße eigentlich ist, wenn fahrender und ruhender Kfz-Verkehr nicht mehr vorhanden sind.

Fußgängerzone in Brüssel, Pentagon, Personen, Bäume, alte Häuser, im Hintergrund Hochhäuser
2017: Fußgängerzone - kurz vor der baulichen Umgestaltung (Foto: Hans Porochelt, CC BY-NC-ND 2.0)

Geplant wurde die Neugestaltung von Bureau Greisch und Sum Project. Letztere schreiben auf ihrer Webseite:

After the infamous pre-metro works in the seventies, the redesigning of the Haussmannian boulevards was generated out of a driver’s seat and at a speed of 60 km/h. The challenge now was to invent a contemporary and robust urban framework for the nineteenth-century typology of a boulevard, capturing the wide range of demands and providing a qualitative public space at a different pace.

The boulevards’ new structure, symmetrically divided in different sections, with a central passage for those in a hurry, flanked by places to sit and meet, with seats, terraces or greenery and adjacent room for the “flaneur” along the store fronts, is as simple as it is effective. The inherent logic has been adapted immediately by the users and structures the urban life on the boulevards in its cycles of day and night, workdays and weekends, seasonal activities…

On a larger scale, the project strengthens the lateral flows, stitching together city parts by transforming cross points in meeting places and stretching out in the side streets.

Der zentrale Platz des Boulevards – die Place de la Bourse – ist heute eine ausgedehnte Fußgängerzone, unter der die Metro fährt:

autofreier Platz im Pentagon in Brüssel
Fußgängerzone an der Place de la Bourse (Foto: 2022)

Der schnurgerade Boulevard wurde zur Fußgängerzone:

Fußgängerzone in Brüssel
Boulevard Anspach als Fußgängerzone (Foto: 2022)

Jahrzehntelang waren die Fußgänger auf die Straßenränder beschränkt. Mit der Umgestaltung sind sie in die Mitte der Straße gerückt. Das Radfahren ist ebenfalls auf ganzer Länge erlaubt.

Boulevard Anspach (Foto links: Fülöp Imre, Fortepan 77982)

Die Place de Brouckère wird heute zeitweise für Veranstaltungen genutzt, etwa für ein Sportfest (siehe erstes Foto unten).

Der Boulevard Anspach hatte bis zu sechs Spuren für den Kfz-Verkehr – vier Fahrspuren und zwei Parkspuren. Der Wegfall sämtlicher Spuren hat offenbar weder zur Staus noch zu anhaltenden Verkehrsproblemen geführt, sondern vielmehr zu einer Belebung des öffentlichen Raums beigetragen.

Der Begriff Verkehrsberuhigung, der für solche Umgestaltungen oft angewandt wird, ist fast irreführend: Der Fußgängerverkehr und sicherlich auch der Radverkehr sind durch den Umbau sicherlich gestiegen. Von fünf Arten der Fortbewegung – zu Fuß, per Rad, per Metro, mit dem Auto – ist lediglich eine weggefallen.

Boulevard in Brüssel vor und nach der Umgestaltung zur Fußgängerzone
Place de Brouckère: von der befahrenen Kreuzung zum Stadtplatz (Foto links: Photo Phiend, CC BY-NC-ND 2.0)

Aus der Kreuzung bei der Börse ist ein lebendiger öffentlicher Raum geworden:

Radfahren einst und jetzt

Radgefahren wurde auf dem Boulevard Anspach immer schon. Bereits auf frühen Aufnahmen sind Radfahrer zu sehen. Auch heute wird die Straße gerne zum Radfahren genutzt – angesichts der zuweilen vielen Passanten ist das nicht überall ganz einfach.

Boulevard Anspach und Place de la Bourse in Brüssel, links um 1900, Mitte 2006, rechts 2022
Boulevard Anspach & Place de la Bourse (Foto Mitte: Aktron, Wikimedia Commons, CC BY 3.0)

Grünflächen

Die Grünflächen wurden ungefähr dort angelegt, wo sich zuvor die Parkplätze befunden hatten. 

Auf Begrünung wurde bei der Umgestaltung viel Wert gelegt. Der Metrotunnel im Untergrund dürfte die Pflanzung von Bäumen stellenweise aber verhindert haben.

Straße im Zentrum von Brüssel, Fußgängerzone, Bäume, Menschen, Straßenschilder
Die Fußgängerzone wurde umfangreich begrünt. (Foto: 2022)

Auch ein gewisser Nachteil größerer Grünflächen im dichten Stadtgebiet wird hier erkennbar: das Platzproblem. Auf dem Boulevard sind manchmal so viele Menschen unterwegs, dass es stellenweise etwas eng werden kann. Die niedrigen Rasenflächen werden auch betreten, was ab einer gewissen Beanspruchung sichtbar wird.

Fußgängerzone, Grünflächen, Brüssel
Grünflächen am Boulevard Anspach (Foto: 2022)

Die folgenden Fotoaufnahmen zeigen, wie sich die einzelnen Abschnitte des Boulevards im Laufe der Jahrzehnte verändert haben. Mit Fotos von 1880 bis 2022.

Zwischen Place Fontainas und Bourse

Rund 350 Meter ist dieser Abschnitt lang. Auf der schnurgerade Straße ist der Wandel von Straßenbahn über das Auto hin zur Fußgängerzone gut zu erkennen.

Place de la Bourse

Die um 1870 erbaute Börse liegt in der Mitte des Boulevards und im Zentrum der Brüsseler Innenstadt (Pentagon). Der Platz vor dem durch sechs korinthische Säulen gebildeten Portikus hat sich seit der Erbauung mehrmals stark verändert.

Schon auf den ältesten Aufnahmen sind Straßenbahnen zu sehen. Heute verkehren sie unterirdisch. Beim letzten Umbau (2017-2020) wurde ein weiter durchgängiger Platz bis in den Nebengasse geschaffen. Die unterhalb befindliche Metro-Station dürfte Begrünungsmaßnahmen erschwert bzw. verunmöglicht haben.

Rue Auguste Orts

Die gegenüber der Börse liegende Straße ist eng mit dem Platz und dem ganzen Boulevard verbunden. Schon um 1900 waren hier Straßenbahnen unterwegs. Seit der Umgestaltung (2017-2021) ist die Straße eine Fußgängerzone mit einer Wasserfläche in der Mitte.

Zwischen Place de la Bourse und Place de Brouckère

Etwa 320 Meter sind Börse und Place de Brouckère voneinander entfernt. Auch dieser Abschnitt wurde von 2019-2021 umgestaltet.

Der Boulevard hat sich über die Jahrzehnte einschneidend verändert. Daran hat die Massenmotorisierung einen großen Anteil.

Die Straße hat sich seit den 1980ern grundlegend gewandelt:

Place de Brouckère

Der im 19. Jahrhundert angelegte Platz bildet den Abschluss des Boulevards. Ein großer Springbrunnen (Fontaine Anspach) und zwei Reihen von Straßenlaternen bildeten das Zentrum des kunstvoll gestalteten Platzes. Ein Journalist, der den Platz im Jahr 1931 besuchte, schrieb:

Auf der Place de Brouckere stürzen Lichtfluten über den Himmel. Man sitzt auf der Terrasse der Kaffeehäuser und trinkt sein Bier, die weißbeschürzten Kellner walten ebenso geschickt wie ihre Pariser Kollegen ihres Amtes. Alles ist da, was zu den Requisiten der großen Stadt gehört: schöne Frauen, schöne Wagen, Licht, Lärm, Musik.

In den 1970ern wurde die Metrostation errichtet. Dabei wurde der Brunnen abgebaut und an einem anderen Platz aufgestellt. Eine grundlegende Umgestaltung erfolgte von 2017-2020. Seither ist der Autoverkehr bis auf zwei Straßen von dem Platz verbannt.

Der Platz mit Blick auf den Boulevard ist im Vergleich zu den 1950ern kaum wiederzuerkennen (Foto unten). Das liegt nicht nur am öffentlichen Raum, sondern auch an der Bebauung: Heute stehen am Ende des Boulevards zwei in den späten 1960ern und frühen 1970ern erbaute Hochhäuser.

Boulevard Anspach: Stimmen aus der Vergangenheit

1880, nur wenige Jahre nach Errichtung des Boulevards, schrieb die Deutsche Bauzeitung:

Der Boulevard central [=Boulevard Anspach] ist die eigentliche Pulsader des inneren grossstädtischen Lebens in Brüssel. Die Schöpfung dieses riesigen Werks, dessen Projektirung und Durchführung in die Jahre 1866 bis 1871 fällt, ist im wesentlichen als das Verdienst des verstorbenen Brüsseler Bürgermeisters, des thatkräftigen Julius Anspach, zu bezeichnen (…) Vordem lag hier die schmutzigste Partie der inneren Stadt; die Senne floss als ekelhafte offene Kloake, mit stagnirenden Seitenarmen und Gewerbegräben, mit Stauschleusen und alten Mühlgebäuden, zwischen den Häusern einher, alles in sich aufnehmend, was die alte Stadt an Abfällen und Schmutzwasser erzeugte (…) Es war also im Grunde ein sanitäres Werk, und zwar ein technisches Werk von höchster Bedeutung (…)

Der neue Anbau entwickelte sich, von dem geschäftlichen Aufschwung jener Jahre begünstigt, ausserordentlich schnell. Als Zubehör zu dem Boulevard erstanden in kurzer Zeit die Markthallen auf dem alten Fischmarkt; die Börse, jenes glänzende, wenn auch dekorativ überladene Bauwerk des Architekten Suys und – wodurch der Brüsseler Boulevard central über die meisten anderen modernen Strassen hervor ragt – eine Fülle der verschiedenartigsten, im monumentalen Sinne ausgestalteten Privatbauten. Da sind alle Stile und alle Geschmacks-Richtungen vertreten (…)

Die statischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen lassen die alte Zeit weit entrückt erscheinen. Welchen Eindruck der Boulevard um die Jahrhundertwende tatsächlich auf Besucher gemacht haben mag, ist in einem Bericht von Stefan Zweig festgehalten. Der Schriftsteller, der auch als Journalist arbeitete, schrieb 1906 in einem Zeitungsartikel:

Ich glaube, in keine Großstadt ist man so rasch verliebt wie in Brüssel. Vom Bahnhof aus hat man sie schon gern. Denn da blinkt eine helle lange Straße im Abend, der Boulevard du Nord, der sich bald in den berühmten Boulevard Anspach verliert, und mit einemmal fühlt man sich tausendfach von Lichtgarben umstrickt. Moderne Kaufhäuser mit spiegelnden Scheiben, farbig aufzuckende Worte, die bis zum First hastig hinaufklettern, jäh erlöschen und in anderen Tönen, rot, grün, blau, violett, wieder über die Brüstung hinrinnen. Und ganz oben am Dach der übermütige Tanz der Kinematographenbilder, Flut und Fülle von Licht in ewiger Unrast, verdoppelt, vervielfältigt von den Reflexen am feuchten Asphalt, von den raketenraschen Spiegelungen der Schaufenster. Licht, Licht in tausend Formen und Farben: man ist geblendet, gepackt, verlockt. Wer Paris und London noch nicht kennt, dem ist dies ein Ereignis, denn er fühlt zum erstenmal den heißen Atem der modernen Großstadt.

Auf den Trottoirs ballt sich ein Gedränge hastiger Menschen, dazwischen der schläfrige Gang der Flaneurs und die grellfarbenen Kokotten [„leichte Mädchen“] mit schleppenden Jupons, aus denen jene Welle von Parfüm zu fließen scheint, in der sie wandern. Auf der Straße donnert das Getümmel der Wagen, Automobile surren hastig vorbei, Kamelotts [Zeitungsverkäufer] stürmen an einen heran, verzweifelt die großen Zeitungen schwingend, und ihr schon heiserer Ruf scheint das einzig Bestehende in diesem tönenden Chaos (…)

Das eigentliche Brüssel liegt rechts und links vom Boulevard Anspach, den der eilige Fremde vielleicht gar nicht verläßt. Ein paar Gassenweit, und schon schmilzt das Format der Warenpaläste zusammen, mehr und mehr gleitet der Charakter des Zinshauses in den des kleinen behaglichen Privathauses über (…)

Das Linzer Tagblatt notierte 1928:

[E]in Großstädter kommt in Brüssel auf seine Rechnung. Der Alpenländer freilich erstickt in der von zahllosen Autos verpesteten Luft. Prachtvoll sind die vom Bahnhof ausstrahlenden Verkehrswege. Im „Boulevard Anspach“ oder in den „Nieuw-Straat“ entfaltet sich höchster Luxus. Autos neuester Typen schieben sich in langen Kolonnen vorwärts, ganze Hauswände bestehen aus Spiegelglas (…) Bei der Börse und an anderen Plätzen liegen Bierhallen und Cafés.

Ein Journalist der Dorstener Volkszeitung über Brüssel im Jahr 1930:

Der Lebensstrom flutet im Zentrum dieser Stadt von 800 000 Einwohnern in brausender Fülle, in verwirrender Hast, ebbt nach der Peripherie zu allmählich ab und geht in kleinbürgerliche Ruhe in den Vorstädten über. Der Hauptverkehr spielt sich zwischen dem Nord- und dem Südbahnhof in zwei Parallelstraßen ab, dem Boulevard Anspach und der engeren Geschäftsstraße Rue Neuve mit den riesigen Warenhäusern (…) Auf den Boulevards pulst das Leben der Großstadt, hier reiht sich Café an Café mit der Sitte, Tische und Stühle draußen auf den breiten Bürgersteig zu stellen bis in das strömende Auf und Ab der Menschenscharen hineingeschoben.

Die Oberösterreichischen Nachrichten von 1949:

[W]enn sich der Strom von Autokolonnen verdichtet, der sich in rasender Eile über die glatten Straßen hinschiebt, weiß man; daß man sich der Hauptstadt nähert. Gemessen an den Autokolonnen, müßte der Marshall-Plan in Europa die größten Fortschritte gemacht haben, denn die protzigen und schnittigen amerikanischen Wagen haben die europäischen Fabrikate fast verdrängt. Die vielen Seitengassen des Zentrums der Stadt sind mit parkenden Autos so vollgestopft, daß es den Anschein erweckt, halb Brüssel habe sich Autos angeschafft. Die Stadt durchpulst ein Leben, nicht nur wegen der vielen Autos, sondern auch wegen der vielen Menschen, die sich den ganzen Tag auf den schönen Boulevards drängen (…)

Gegen Abend, wenn die bunten Lichtreklamen aufzuleuchten beginnen, erreicht das Getriebe seinen Höhepunkt. Die Cafés sind überfüllt (…) Geht man zu dieser Stunde den Boulevard de Waterloo entlang, oder promeniert man auf dem Boulevard [Adolphe] Max oder auf dem Boulevard Anspach, so trifft man überall das­selbe Bild an: die Gehsteige können den Menschenstrom kaum fassen, der sich in wildem Gewoge den breiten Straßen entlang schiebt.

Quellen

Zitate aus alten Zeitungen

  • Deutsche Bauzeitung, Band 14, 8.12.1880, S. 527f
  • Stefan Zweig, in: Die Zeit, 28.6.1906, S. 1
  • Tagblatt, 3.11.1928, S. 1
  • Dorstener Volkszeitung, 13.12.1930
  • Der Tag, 26.7.1931, S. 14
  • Oberösterreichische Nachrichten, 26.7.1949, S. 5

Fotos

WienSchauen.at ist eine unabhängige, nicht-kommerzielle und ausschließlich aus eigenen Mitteln finanzierte Webseite, die von Georg Scherer betrieben wird. Ich schreibe hier seit 2018 über das alte und neue Wien, über Architektur, Ästhetik und den öffentlichen Raum.

Wenn Sie mir etwas mitteilen möchten, können Sie mich per E-Mail und Formular erreichen. WienSchauen hat auch einen Newsletter:

Nach der Anmeldung erhalten Sie ein Bestätigungsmail.