Der Umgang mit historischen Gebäuden in Wien ist eine Katastrophe. Politik, Magistrate und auch viele Bauträger haben ihren Anteil daran. Ein besonders sprechendes Beispiel findet sich in Ottakring. 2018 wurde bei einem Gründerzeithaus historischer Fassadenschmuck abgeschlagen, um völlig deplatzierte Balkone anbringen zu können.
Genehmigt wurde das von den Wiener Magistraten. Der Leiter der zuständigen Behörde ist schon früher aufgefallen: 2003 stimmte er dem Abriss eines riesigen Jugendstilhauses mitten im 1. Bezirk zu – trotz Ortsbild-Schutzzone.
Stuck runter, Metall rauf
Fassadenschmuck prägt seit Jahrhunderten das Erscheinungsbild der Wiener Häuser. Selbst ganz durchschnittliche Wohnhäuser aus der Jahrhundertwende wirken noch heute sehr attraktiv. Doch die Politik tut viel zu wenig, um diese zeitlose Attraktivität zu bewahren. Regierung und Behörden fördern indirekt Abrisse historischer Gebäude; grobe Eingriffe und Fassadenzerstörungen werden erlaubt; historische Kuppeln dürfen entfernt, Dekor abgeschlagen werden. Investorengesteuerte Stadtplanung und völlig unzureichende Gesetze bilden die Basis dafür. Die niedrige Qualität im Neubau (oft nach Abrissen) komplettiert eine Entwicklung, die auf fehlenden Abriss-Schutz und fehlende qualitätssichernde Verfahren verweist (kein Gestaltungsbeirat). Dazu kommen noch die viel zu niedrigen Sanierungsförderungen für Eigentümer (unzureichender Altstadterhaltungsfonds).
Ein anschauliches Beispiel für das Desinteresse am bauhistorischen Erbe findet sich an der Ecke Rückertgasse/Seeböckgasse im 16. Bezirk. Bei einem 1899 erbauten Haus mit komplett erhaltener Historismus-Fassade wurden Balkone aus unattraktivem Metall angebracht. Ein größerer Bruch mit der Architektur des Bestandsgebäudes ist kaum vorstellbar. Während Balkone auf Häusern mit glatten Fassaden und hofseitig sehr sinnvoll sind, wurde hier destruktiv in die Architektur eines Altbaus eingegriffen.
"Billigsdorferlösung"
Die Stuckverzierungen sind komplett erhalten, sogar im Erdgeschoß. Das ist keine Selbstverständlichkeit. Während anderswo in mühsamer Kleinarbeit zerstörter Dekor rekonstruiert wurde, ist in der Rückertgasse 29 der Fassadenschmuck teilweise abschlagen worden.
Der Architekturpublizist Wojciech Czaja schrieb schon 2018 im Standard:
An einer Stelle wurde der Stuck entfernt, um Platz zu machen für Balkonanbauten aus Trapezblech und verzinktem Stahl, die ausschauen wie eine Billigsdorferlösung aus dem Baumarkt.
Noch 2017 war das Haus in seinem ursprünglichen Zustand:
Ein Jahr später waren die Balkone schon angebracht:
Unpassende Tür
Nicht gerade zimperlich wurde im Erdgeschoß vorgegangen. Eine völlig unpassende Tür wurde eingesetzt. Ob es sich nur um ein Provisorium handelt?
Dachausbau
Seit etwa 2021 werden Bauarbeiten am Haus durchgeführt, offenbar ein Dachausbau. Die Balkone sind immer noch angebracht.
Wer steckt hinter dem Umbau?
2018 bewarb eine Wiener Maklerfirma die Wohnungen mit Transparenten am Haus. Auf Anfrage erklärte die Firma damals:
Das Projekt in der Rückertgasse ist noch nicht abgeschlossen. Im Zuge des Dachausbaus wird die Fassade saniert.
Das Unternehmen habe aber bloß als Vermittler agiert und sei nicht in das Bauprojekt involviert gewesen. So ist die Firma also auch nicht für die Balkone verantwortlich.
Wer aber hat die Anbringung der Balkone beauftragt? Das ließ sich nicht herausfinden. Das Gebäude ist heute im Eigentum zahlreicher Personen, darunter viele, die offenbar nicht im Haus wohnen.
Behörde erlaubte Fassadenzerstörung
Für Änderungen an Gebäuden braucht es eine Genehmigung der Behörden. Involviert sind u. a. die MA 37 (Baupolizei) und die MA 19 (Architektur und Stadtgestaltung).
Schon 2021 bat WienSchauen beim Planungsressort (Stadträtin Ulli Sima, SPÖ) um eine Stellungnahme. Erst nach wiederholten Nachfragen wurde die Anfrage an das Wohnbauressort (Stadträtin Kathrin Gaál, SPÖ) weitergeleitet. Die Antwort:
Die von Ihnen erwähnten Balkone wurden mit Bescheid der MA 37 vom 14. August 2017 bewilligt. Grundlage dazu war eine Stellungnahme der MA 19, dass das örtliche Stadtbild durch diese Balkone weder gestört noch beeinträchtigt wird.
Es gibt außer der allgemeinen Regelung des § 85 der Bauordnung für Wien (BO) über das örtliche Stadtbild keine Vorschriften über Materialwahl, Farbe und Gestaltung von Balkonen.
Der oben erwähnte § 85 besagt jedoch, dass …
… das Äußere der Bauwerke nach Bauform, Maßstäblichkeit, Baustoff und Farbe so beschaffen sein [muss], dass es die einheitliche Gestaltung des örtlichen Stadtbildes nicht stört (…)
Die Behörden waren also tatsächlich der Ansicht, dass dieses Gesetz im Fall der Balkone in der Rückertgasse eingehalten wird. Entschieden wurde das von jener Magistratsabteilung, deren Leiter im Jahr 2003 ein riesiges Jugendstilhaus im 1. Bezirk zum Abriss freigab (Wipplingerstraße 33). Trotz Ortsbild-Schutzzone. Der Leiter der Magistratsabteilung ist auch fast zwanzig Jahre später immer noch im Amt.
Balkonanbau seit 2014 erlaubt
Als der Umbau erfolgte, war noch Stadträtin Maria Vassilakou (Grüne) im Planungsressort. Die Stadträte haben mit kleinen Projekten wie Um- und Neubauten aber kaum zu tun, denn das ist Aufgabe der Magistrate. Aber doch war unter der Regierungsbeteiligung der Grünen die Bauordnung geändert worden. So dürfen Balkone seit 2014 auch auf straßenseitigen Fassaden nachträglich angebracht werden. Vorher war das verboten.
Die im Kern gut gemeinte Reform kann natürlich viele Häuser aufwerten. Für Hofbereiche ist der Balkonanbau auch sehr sinnvoll. Aber Balkonanbauten sollten sich unbedingt auf Häuser ohne erhaltenswerte historische Fassaden beschränken. In Summe muss ein harmonisches Ganzes bewahrt werden, um Häuser nicht irreparabel zu beschädigen. Das ist im Gesetz aber nicht vorgesehen. Mit allen langfristigen Konsequenzen.
Auf der Webseite der Stadt Wien ist zu lesen:
Der Bauteil „Balkon“ stellt ein Gestaltungselement am Gebäude selbst dar. Aufgrund seiner Positionierung an der Fassade nimmt er auch Einfluss auf das Erleben des jeweiligen Straßen- oder Stadtraumes. Balkone müssen daher sowohl auf das zugehörige Gebäude als auch auf das örtliche Stadtbild reagieren (…)
Für die Beurteilung von Balkonen im Stadtbild müssen der Gebäudebestand, die Fassadenordnung und -gliederung in die Betrachtung einbezogen werden. Einen wesentlichen Aspekt der Begutachtung bildet die gestalterische Einfügung des Balkons in das jeweilige Straßenraumprofil (…)
Bei historischen Fassaden und insbesondere in Schutzzonen (…) sind die Balkone in die Fassadengliederung einzubeziehen. Dabei sollen auch zeitgemäße, materialreduzierte Lösungen untersucht werden.
Das ist gleich mehrfach problematisch:
- Sogar der Anbau von Balkonen bei sehr erhaltenswerten historischen Gebäuden – also in Schutzzonen – ist erlaubt. Ein Freifahrtschein für die Verunstaltung jahrhundertealter Bauten.
- Die explizite Betonung „zeitgemäßer Lösungen“ birgt enorme Gefahren. In der Praxis kann das heißen, dass einfach alles erlaubt wird. Wird „zeitgemäß“ im Sinne der teils horriblen Wiener Investorenarchitektur ausgelegt, dann sind Sichtbeton, Stahl und vollkommener Rücksichtslosigkeit gegenüber der historischen Architektur Tür und Tor geöffnet.
Schönere Balkone bauen
In diesem Sinne wäre es wichtig, die Bauordnung rasch zu reformieren: Erhaltenswerte historische Gebäude dürfen nicht mehr durch katastrophale Balkonanbauten beeinträchtigt werden. Für alle anderen – also die allermeisten – Gebäude und alle glatten Fassaden sind Balkone in folgender Form sinnvoll:
- Gitterstäbe aus Gusseisen bzw. mit passender Farbe gestrichenem Metall, oder aus Holz
- Keine großflächigen Platten (Kunststoff, Metall), die die Ästhetik eines Hauses schwer beeinträchtigen
- Kein unattraktives Milchglas (trübes Glas)
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Quellen, Fotos
- Abbrüche von Gründerzeithäusern: Vienna Demolition Man (Der Standard, 8.9.2018)
- Balkone in Wien (Webseite der Stadt Wien)
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