In Simmering steht seit 2021 ein Gebäude mit allzu eigenwilliger Architektur. Die „Business Apartments“ in der Gudrunstraße 1 trumpfen auf mit harter Ästhetik und einem Raster von vogelhausartigen Erkern.
Das macht eines deutlich: In Wien gibt es ein Problem mit der äußeren Gestaltung von Neubauten. Bauherren und Architekten scheinen sich oft nicht bewusst zu sein, was Gebäude langfristig mit der Stadt machen. Und die politischen Entscheidungsträger sehen tatenlos zu. Das Haus in der Gudrunstraße ist dabei nur die Spitze eines wachsenden Betonberges.
Eine Wohnmaschine für Simmering
An einer unscheinbaren, aber verkehrsbelasteten Ecke an der Grenze von 11. und 10. Bezirk wurde 2021 ein neues Wohnhaus fertiggestellt. Untergebracht sind darin freifinanzierte Mietwohnungen. BFA x KLK, das planende Architekturbüro, beschreibt das Gebäude so:
Auf einem leeren Bauplatz in Wien entsteht ein großvolumiger Bau mit fünfzig Business Apartments und sechs Büros (…) In einer von Gewerbebetrieben geprägten Nachbarschaft um den Wiener Hauptbahnhof bildet die Gestalt der Fassade – in Form gestapelter Schrebergärten – einen starken Ausdruck im städtebaulichen Kontext.
Spannende Architektur
Vermarktet werden die Wohnungen von Rustler (die aber nicht der Bauträger/Eigentümer sind). Das bekannte Wiener Unternehmen schreibt:
In urbaner Lage, eingebettet zwischen dem Hauptbahnhof und dem Laaer Berg, und doch nur 15 Minuten von der Wiener Innenstadt entfernt, ist ein außergewöhnlicher Neubau mit 50 Wohneinheiten in Simmering fertiggestellt!
Das Haus selber befindet sich an der Ecke Gudrunstraße 1/ Werkstättenweg 4 und besticht durch seine spannende Architektur. Mit einem zentralen Stiegenhaus werden insgesamt 7 Stockwerke erschlossen (…) Im Erdgeschoss entstehen 6 Geschäftsflächen in der Größe von 10 – 40m², welche sich auch ideal als Büros eignen.
Im Oktober 2021 war beispielsweise eine 41 m² Wohnung befristet um 650 €/Monat zu haben, dazu 1.416 € Maklergebühr. Ohne Heizkosten.
Schönheit dringend gesucht
Die markante Fassade des Gebäudes besteht aus einem streng abwechselnden Raster aus Erkern im Vogelhaus-Look und Balkonen. Die Giebeldächer der Erker sind dabei in erster Linie Dekoration. Es handelt sich also um eine Art Schmuck. Hier ein paar Überlegungen:
- Dekor hat keine unmittelbare Funktion – im Sinne von Konstruktion
- Aber: Fassadenschmuck wertet das Gebäude auf und gliedert den Baukörper, um Monotonie zu vermeiden. Das Gebäude wird so in einen historischen bzw. stilistischen Kontext eingefügt. Dekor hat also seine Berechtigung und seine Funktion, wie jeder Besucher von historischen Städten ohnehin längst weiß.
- Gerade in der Wiener Moderne (um/ab 1900) wurde das Ornament überhaupt auf eine neue Grundlage gestellt, wie die Kulturwissenschaftlerin Andrea Wald erläutert:
Der Historismus verwendet Ornamente, um alte Zeiten wieder auferstehen zu lassen. Der Jugendstil verwendet Ornamente als ästhetische Werke in sich selbst. Im Historismus sind Ornamente Vehikel, im Jugendstil werden sie zum Kunstgegenstand.
- Ist die ästhetische Funktion des Dekors beim Gebäude in der Gudrunstraße gegeben? Die Dächer sind weder attraktiv gestaltet, noch nehmen sie Bezug auf Umgebung oder historische Vorbilder. Es handelt sich wohl bloß um eine humorvoll gemeinte Idee eines Architektenteams und/oder Eigentümers.
Auch Material und Farbgebung sind in Fragen der Schönheit entscheidend: Durch hochwertige Materialien erhalten Häuser eine dauerhafte Wertigkeit. Besonders attraktiv sind Stein (z. B. Neudeggergasse 8, Schule in der Julius-Meinl-Gasse), Holz (z. B. Bloch-Bauer-Promenade 22), Klinker (z. B. Rabenhof, Kollmayergasse 18) und Gusseisen.
All das hat das Haus in der Gudrunstraße 1 nicht. Hier setzten Bauträger und Architekten auf weiße Putzwände, Balkone in Stahloptik und teilweise auf unbehandelten Beton. Von Kunst am Bau oder dezenten Farbgesten ist auch nichts zu sehen.
Leere Schauseite
Der vielleicht kargste Teil des Gebäudes ist ausgerechnet jener, der am sichtbarsten ist. Auf der Seite zur Gudrunstraße beschränkt sich die Gestaltung in erster Linie auf nackte Mauerflächen. In empirischen Untersuchungen wurde übrigens festgestellt, dass Häuser mit besonders wenigen Fenstern, wenig Dekor und viel Mauerfläche als hässlich empfunden werden.
Wie ist es dazu gekommen?
Das Architekturbüro BFA x KLK, ein Zusammenschluss zweier Unternehmen, zeichnet sich für die Gestaltung verantwortlich. Das Büro wird auf der Seite architektur-aktuell.at folgendermaßen beschrieben:
BFA x KLK verfolgt den Ansatz, vielfältigen Situationen mit Neugierde zu begegnen und Ideen mit Originalität umzusetzen. Die Zusammenarbeit beider Büros zeichnet sich durch die gemeinsame Leidenschaft zum Experiment, die tiefgreifende Expertise und den Sinn für Ästhetik aus. Daraus resultiert die interdisziplinäre Praktik, welche die Bereiche Architektur, Design & Interior, Projektmanagement und Urban Strategies vereint. Im breiten Spektrum finden sich zwei Generationen mit einem Bewusstsein für das Zusammenspiel von Mensch und Raum.
Auch der bekannte Wiener Architekt Heinz Lutter wird als Mitarbeiter (Leiter?) genannt. Sein Architekturbüro wiederum schreibt:
Wenige vereinen historische Elemente mit modernen Ansprüchen so gekonnt wie das Büro für Architektur. Vor über 30 Jahren von Architekt Heinz Lutter in Wien gegründet, baut BFA einzigartig sensibel aus und um und realisiert ebenso fundiert Projekte in allen Größenordnungen.
Die Architektursprache des Gebäudes verwundert deswegen besonders, da einige der teilnehmenden Architekten an ausgesprochen hochwertigen Projekten gearbeitet haben. Darunter fallen auch zahlreiche Sanierungen und Umbauten historischer Gebäude. Das Haus in der Gudrunstraße ist also keinesfalls das Resultat fehlenden Wissens oder fehlender Erfahrung. An der Planung waren ausgewiesene Experten beteiligt.
Gestalten ohne Vorgabe und Ziel?
Ist das Haus ein Zeichen für die inhaltliche und visionslose Leere, die in der Architektur seit dem Ende der Postmoderne zu beobachten ist? Zwar gibt es mit dem Klimawandel und der Anpassung an selbigen ein zentrales Thema, an dem sich unser Handeln ausrichten muss. Eine gemeinsame Stilsprache herrscht aber nicht.
Vielleicht ist es gar an der Zeit für eine Art Renaissance – eine Neuinterpretation und Weiterentwicklung der alten Moderne (Otto Wagner & co, Adolf Loos, Josef Frank)? Oder der Architekturstile, die das sozialdemokratische Wien der Zwischenkriegszeit mit seinen Gemeindebauten hinterlassen hat?
Sind die Auftraggeber das Problem?
Architekten haben es nicht leicht. Einerseits sind sie mit einem Wust an Normen und Regeln konfrontiert, die den Gestaltungsspielraum extrem einengen. Darunter fällt auch der Zwang zum Bau von Garagen – ein Relikt aus der Nazizeit, das hohe Baukosten verursacht. Andererseits wollen Bauträger und Investoren, die Entwürfe in Auftrag geben, natürlich möglichst wirtschaftlich bauen. Also viel Fläche für nicht allzu hohe Kosten. Wie sehr dieser ökonomische Faktor im Vordergrund steht, unterscheidet sich je nach Bauträger: Manche setzen auf hochwertige Architektur, anderen genügt das absolute Minimum. Da selbst Gebäude mit sehr unattraktiver Architektur Käufer bzw. Mieter finden, fehlt der wirtschaftliche Druck hin zu ansprechender äußerer Gestaltung.
Das bringt Architekturbüros unter Zugzwang. Wollen sie Aufträge nicht verlieren, müssen sie ihre Entwürfe entsprechend anpassen. Dabei geht es auch um Arbeitsplätze und letztlich ums wirtschaftliche Überleben. Könnte auch das Haus in der Gudrunstraße das Ergebnis eines solchen Kompromisses sein? Oder war die harte Gestaltung von vornherein die Intention?
Leerstand?
Das Gebäude wurde im Sommer 2021 auch in einer Presseaussendung der Grünen thematisiert. Wohnbausprecher Georg Prack:
Das Beispiel in der Gudrunstraße 1 zeigt, dass im privaten Wohnbausegment in allen Lagen Preise verlangt werden, die sich kaum jemand leisten kann. Ein gesamter Wohnbau mit 50 Wohnungen steht weitgehend leer. Bei Quadratmetermieten von 15-18 Euro kein Wunder. Ein Wohnungsneubau, der keine leistbaren Wohnungen schafft, sondern hauptsächlich leerstehende Betonsparbücher, muss mit allen Mitteln verhindert werden.
Wien und seine Neubauten
Einst war Wien führend in Architektur und Straßengestaltung. Tradition, Innovation und hohe ästhetische Ansprüche prägten die Stadt noch bis in die 1930er-Jahre. Von Fassaden bis hin zu Straßenlaternen und Sitzbänken wurde viel Wert auf ansprechende Ästhetik gelegt. Damals gelang es oft sogar, durch Abrisse und Neubauten eine ästhetische und funktionale Verbesserung zu erreichen (Beispiele hier).
Während freifinanzierter Wohnbau früher meist ästhetisch ansprechend war, hat sich das heute zuweilen ins Gegenteil verkehrt. Vielfach ist zu beobachten, wie der geförderte Wohnbau (Genossenschaften) höhere gestalterische Qualität hervorbringt als der freifinanzierte. Auf den ersten Blick wäre zu vermuten, es müsste eigentlich genau umgekehrt sein: Möglichst unbeschränkte Mietpreise und völlige Freiheit in der Gestaltung als Garanten für hochwertige Resultate. Aber das ist oft einfach nicht der Fall.
Mit minimalen gestalterischen Mitteln werden maximale Flächen produziert, ohne Rücksicht auf die Umgebung und ohne an die alten Stärken der Wiener Architektur anzuschließen. Oftmals haben Bauträger auch kein Interesse, ihre Häuser langfristig zu behalten. Projekte werden während oder kurz nach dem Bau verkauft. Entsprechend ist wohl der gestalterische Anspruch. Leidtragend ist aber die Stadt im Gesamten: denn Gebäude stehen viele Jahrzehnte und ein Fehlgriff kann kaum wiedergutgemacht werden. So wird die Stadt immer hässlicher.
Das Haus muss gefallen
Hinter all den Überlegungen zur Architektur von Neubauten steht auch dieser Gedanke: Ein Haus ist kein Kunstwerk im engeren Sinn. Denn die meiste Kunst lässt sich einfach ignorieren: Wir überspringen ein Lied, drehen eine TV-Serie ab; wir gehen schlicht nicht in Konzerte und Ausstellungen, die uns nicht gefallen (könnten). Das geht bei Gebäuden aber nicht. Ein Haus ragt physisch in den öffentlichen Raum hinein und konstituiert damit die Stadt. Wir können uns dem Eindruck eines Gebäudes nicht entziehen.
Warum Wien immer hässlicher wird
Das Problem der Wiener Neubau-Architektur scheint drei zentrale Akteure zu betreffen:
- Viele Bauträger sind an attraktiver Gestaltung nicht interessiert.
- Etliche Architekturbüros planen in einem eigenartig „konservativen“ Stil, der irgendwo zwischen den 1970ern und den 1990ern stecken geblieben scheint. Abgesehen von der kurzen Postmoderne in den 1980ern (Beispiel: Schottenfeldgasse 37) hat diese Zeit nur wenige dauerhaft ästhetisch interessante Gebäude hervorgebracht – zumindest hierzulande. Eine möglichst zeitlose und hochwertige Architektursprache, etwa durch Anlehnung an und Weiterentwicklung von historischen Vorbildern, ist heute sehr selten.
- Die Stadt Wien legt keinen Wert auf hochwertige Architektur und harmonische Einordnung von Neubauten: Vorgaben für die äußere Gestaltung von neuen Gebäuden gibt es nicht. Ein unabhängiger Gestaltungsbeirat, der alle Entwürfe prüft und Änderungen einfordern kann, fehlt.
Das Gestaltungsproblem ist in allen Bezirken in unterschiedlichem Ausmaß präsent (siehe Fotostrecke unten). Mehr Beispiele finden sich auf der Karte mit „bestürzenden Neubauen“.
Kontakte zu Stadt & Politik
- SPÖ Wien: kontakt@spw.at, Tel. +43 1 535 35 35
- ÖVP Wien: info@wien.oevp.at, Tel. +43 1 51543 200
- Die Grünen Wien: landesbuero.wien@gruene.at, Tel. +43 1 52125
- NEOS Wien: wien@neos.eu, Tel. +43 1 522 5000 31
- FPÖ Wien: ombudsstelle@fpoe-wien.at, Tel. +43 1 4000 81797
(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
Quellen
- Business Apartments Gudrunstraße in Wien (25.5.2021)
- Grüne Wien/Prack: Leerstand in Wiener Wohnungen muss effizient bekämpft werden (Presseaussendung, 5.8.2021)
- BFA x KLK (planendes Architekturbüro)
- BFA x KLK auf Architektur aktuell
- Das Ornament: Lebendig und gefährlich (ORF, 24.3.2014)
- Foto Volksschule Julius-Meinl-Gasse (2014): Linie29, VS 16 Odoakergasse, CC BY-SA 3.0
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