Nur wenige Schritte vom Hauptbahnhof entfernt wird ein riesiges neues Stadtviertel gebaut. Am Neuen Landgut sollen künftig 4000 Menschen leben. Im März 2020 wurde der Plan vorgestellt, im September folgte der Beschluss im Gemeinderat. Jetzt ist alles fix.
Doch dieser Plan hat einige Schwächen. In den Monaten zwischen der Vorstellung und dem Beschluss des Plans wäre Zeit gewesen, diese Schwächen zu beheben. Das ist nicht geschehen. Die Folgen:
- Die im Zentrum liegenden historischen Hallen (darunter die Gösserhalle) sind nicht gegen Abrisse geschützt.
- Vorgaben für die Gestaltung der Neubauten gibt es nicht.
- Der öffentliche Raum könnte veröden, Platz für Geschäfte und Lokale ist nicht eingeplant.
- Die Straßen rundherum werden noch breiter – und lauter.
Eine Übersicht über alle Schwächen des neuen Stadtviertels gibt es hier. Alternativen wären durchaus möglich gewesen (siehe hier).
Das Neue Landgut hat eigentlich alles, was es für ein erfolgreiches neues neues Viertel braucht: Eine exzellente Öffi-Anbindung, einen „historischen Kern“ und viel Platz für Wohnraum und Grünflächen.
Es ist eine der letzten unbebauten Flächen nahe dem Hauptbahnhof. Umso sorgsamer muss also jede Planung erfolgen, denn eine solche Chance bietet sich kein zweites Mal. Alleiniger Eigentümer des Areals und aller Gebäude sind die ÖBB (zumindest noch bis zum Jänner 2020, wie in den Unterlagen zur Umwidmung vermerkt).
Plan mit Schwächen
Im März 2020 wurde der Flächenwidmungs- und Bebauungsplan für das Neue Landgut vorgestellt. Dieser Plan legt fest, was wo und wie hoch gebaut werden darf, wo die Straßen und Gehwege verlaufen und ob alte Häuser gegen Abrisse geschützt werden oder nicht.
Was in diesem Plan steht, ist weniger das Problem. Vielmehr ist auffällig, was alles darin nicht vorkommt. Einige der markantesten Probleme des Entwurfs (und darüber hinaus):
- Altes in Gefahr: Für die historischen Hallen gilt keine Schutzzone gegen Abrisse.
- Konzeptloses Zentrum: Ein langfristiges umfassendes Nutzungskonzept für die Hallen fehlt.
- Charmelose Gestaltung: Einen gemeinsamen gestalterischen Rahmen für die Neubauten gibt es nicht.
- Plattenbau reloaded: Der Wohnbau an der Laxenburger Straße wird monoton und unattraktiv.
- Ödes Erdgeschoß: Verpflichtende Raumhöhen und Flächen für belebte Erdgeschoßzonen (Geschäfte, Lokale etc.) fehlen.
- Keine Hochhäuser: Trotz optimaler Lage (und schon vorhandenem Ensemble) am Hauptbahnhof wird kein Hochhaus errichtet.
- Überbreite Straßen: Laxenburger Straße und Landgutgasse werden noch breiter.
- Schlecht für die Ohren: Auf den Straßen in der Umgebung ist es schon jetzt sehr laut.
- Auf Hitze gehen: Die Gehsteige in der direkten Umgebung werden wohl wieder mit dunklem Asphalt ausgeführt, was die Probleme mit sommerlicher Hitze verstärkt.
- Unleistbares Ziel: Der von der Stadtregierung verkündete Zwei-Drittel-Anteil von günstigen Wohnungen wird nicht erreicht.
- Minihotellerie: Eine Wohnzone gilt nicht. Also gibt es auch keine Beschränkung für die gewerbliche Zimmervermietung an Touristen (Airbnb und co).
Der Verfasser von WienSchauen hat sich in einer Stellungnahme an die Bezirksvorstehung, die Parteien und die Magistrate gewandt. Alle oben genannten Punkte wurden detailliert beschrieben und Alternativen aufgezeigt. – Zu wesentlichen Änderungen ist es aber nicht gekommen.
Neues Landgut startet mit Abrissen
2018 hat die Stadt Wien versprochen, alte Häuser besser gegen Abrisse zu schützen. 2020 rollen die Abrissbagger heran und reißen einen Großteil des Altbestandes am Neuen Landgut ab:
- Ein 1910 erbautes Gründerzeithaus gegenüber dem Columbusplatz
- Ein kleines historisches Backsteingebäude, das wohl zur Gösserhallte gehörte
- Ein großes ÖBB-Bürogebäude aus der Nachkriegszeit. Architektonisch kaum schützenswert, doch wie nachhaltig kann es in puncto Ressourcen sein, ein intaktes Gebäude einfach abzubrechen? War ein Umbau wirklich unmöglich?
Die beiden historischen Gebäude durften abgerissen werden, weil das Ansuchen auf Abbruch schon vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes gestellt wurde. Auf Anfrage teilte die zuständige Magistratsabteilung zudem mit, beide Gebäude seien nicht als erhaltenswert erachtet worden. Interesse für den Erhalt des alten Wiens sieht anders aus.
Empört zeigte sich die Initiative Denkmalschutz über den Abriss:
Und wieder [wie im Fall der Paukerwerke, Anm.] erlebt unser Verein, dass nach dem Erstellen der MA21-Unterlagen für die öffentliche Auflage und vor (!) Ende der öffentlichen Auflagefrist historische Bestandsbauten, die im Erläuterungsbericht (…) noch beschrieben werden, mittlerweile abgerissen sind.
Es wird daher (…) nachdrücklich für die Zukunft angeregt, dass der im Erläuterungsbericht beschriebene Zustand während der öffentlichen Auflage auch vor Ort angetroffen werden soll. Das heißt konkret: In der Zeit bis zum Widmungsabschluss sollen keine Abbrüche erfolgen, weil eine mögliche Erhaltungswürdigkeit nicht ausgeschlossen werden kann.
Altes in Gefahr: Keine Schutzzone für historische Hallen
Auch die beiden historischen Hallen hätten ursprünglich abgerissen werden sollten – doch änderten die Verantwortlichen bei der Stadt Wien ihre Meinung (anders als bei der Nordbahnhalle). Jetzt bleiben die Hallen – Gösserhalle und Inventarhalle – zwar erhalten, doch wie lange, ist unklar: Eine Schutzzone für die historischen Backsteinbauten wurde nicht eingerichtet. Die Hallen könnten künftig also massiv umgebaut oder sogar demoliert werden. Ein Ankauf durch die Stadt Wien war anscheinend nie ein Thema.
Nachtrag (August 2021): Die Gösserhalle wurde 2021 bis auf drei Außenmauern abgerissen. Siehe hier.
Konzeptloses Zentrum: Was kommt in die Hallen hinein?
Die Gösserhalle wurde in den vergangenen Jahren für kulturelle Zwecke genutzt, etwa im Rahmen der Wiener Festwochen. Doch für die Zukunft fehlt ein umfassendes Nutzungskonzept.
Dass die Hallen künftig für Kunst und Kultur genutzt werden, ist möglich – aber keineswegs sicher. Theoretisch könnten sie z. T. auch als Lager oder Büroräumlichkeiten dienen und somit der Öffentlichkeit dauerhaft entzogen sein. Oder es kommt schlicht ein Supermarkt hinein.
Neubau-Architektur: Paradigm lost?
Die historische Wiener Architektur gehört zu den berühmtesten der Welt. Wohl nur die wenigsten aller in jüngerer Zeit errichteten Gebäude können da mithalten. Zumindest scheint sich in den letzten Jahren langsam ein Wandel hin zu attraktiverer Gestaltung zu vollziehen, besonders in Stadtentwicklungsgebieten.
Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Verträglichkeit von Neubau-Architektur gibt es vonseiten der Stadtregierung und Magistrate nur wenige. Wer in Wien ein neues Gebäude errichten will, hat weitgehend freie Bahn:
- Für Neubauten gibt es keine gestalterischen Rahmenbedingungen oder auch nur Empfehlungen. So sind auch einige bestürzende Neubauten entstanden. Auch in der Nähe des Hauptbahnhofs (Karl-Popper-Straße 7, Maria-Lassnig-Straße 2)
- Selbst in Schutzzonen und in sensiblen historischen Umgebungen darf beliebig gebaut werden (siehe Beispiele in Mariahilf, Hernals und Ottakring).
- Der Bebauungsplan legt fest, wie hoch gebaut werden darf – anstatt z.B. eine maximale Anzahl von Geschoßen anzugeben. Die Folge: Die Räume in Neubauten sind meist niedrig und lassen sich später nicht für andere Nutzungen adaptieren. Die Flexibilität von Gründerzeithäusern bleibt also nach wie vor unerreicht.
- Auch der Bau langer, monotoner Gebäude ist erlaubt und wird oft sogar ausdrücklich von den Behörden so gewidmet. Variation, Kleinteiligkeit und Vielfalt sind für das Stadtbild enorm wichtig – werden aber weder von Bauordnung noch Bebauungsplan eingefordert.
Diese Punkte kommen auch beim Neuen Landgut zum Tragen.
Beispiele von Neubauten in Wien
Charmelose Gestaltung?
Mit den historischen Hallen hat das Neue Landgut zwei identitätsstiftende Gebäude in seiner Mitte. Die schöne Backsteinarchitektur wird bald hinter dem typischen Wiener Neubau (weiß, grau, schmucklos, riesig?) verschwinden.
Doch hätte man nicht auf vorhandenen Stärken aufbauen können? Hätten sich Alt und Neu nicht verbinden lassen? Die Backsteinarchitektur der historischen Hallen bietet sich als Referenzpunkt geradezu an.
Der Stadtplaner Reinhard Seiß nennt als Beispiele die Hamburger Hafencity, das Münsterland und Gemeinden in Westösterreich, wo Farben und Materialität der Fassaden für Neubauten genau vorgeschrieben sind.
So dient bspw. eine eigene Verordnung im bekannten Tiroler Ort Alpbach „zum Schutz und zur Erhaltung des einzigartigen Alpbacher Baustils“. Diese Verordnung regelt detailliert die Form der Dächer, die zulässigen Materialien, die Proportionen der Türen und Fenster, die zu verwendenden Farben und die Gestaltung der Balkone. Kurz gesagt: Gemeinden haben die Möglichkeit, gestalterisch einzugreifen und eine harmonische Einordnung von Neubauten zu erwirken – wenn sie es wollen.
Soweit wie in Alpbach hätte man beim Neuen Landgut aber gar nicht gehen müssen. Doch hätte nicht bspw. vorgeschrieben werden können, dass zumindest 50% aller Fassaden mit Backstein, Klinker oder zumindest entsprechenden Fliesen ausgeführt werden müssen? Backstein-Optik als gemeinsames gestalterisches Element? Hätte sich eine solche Bestimmung in den Bebauungsplan aufnehmen lassen?
Sichtziegelfassaden können ja auch richtig modern aussehen (siehe das Beispiel aus dem 3. Bezirk auf dem Foto unten).
Plattenbau reloaded?
Der nördliche Teil der Laxenburger Straße ist nur wenige Schritte vom Hauptbahnhof entfernt. Also wird alles, was hier gebaut wird, für viele Menschen weithin sichtbar sein. Umso bedauerlicher ist, dass gerade an dieser exponierten Lage ein Wohnhaus mit stellenweise monotoner Architektur gebaut werden soll.
Teil dieses Projekts ist ein über 90 Meter langer Riegel, der ein wenig an einen Plattenbau erinnert (Abbildung unten). Ein Vergleich mit einer typischen Wohnmaschine aus den 1970ern drängt sich auf.
Der gesamte Gebäudekomplex an der Laxenburger Straße ist über 200 Meter lang. Das könnte zu einem massiven Bruch mit der Umgebung führen, denn im nördlichen Favoriten ist die Bebauung verhältnismäßig abwechslungsreich. Die Gebäude auf der anderen Straßenseite sind jeweils rund 20 Meter breit.
Ödes Erdgeschoß?
Beliebte Stadtviertel haben funktionierende Erdgeschoßzonen: Geschäfte, Lokale, Supermärkte, Handwerksbetriebe, Künstlerateliers und soziale Einrichtungen bieten nicht nur die nötige lokale Infrastruktur für Anrainer, sondern ziehen auch Menschen aus anderen Gegenden an und beleben den öffentlichen Raum.
Wird bei der Planung auf die Erdgeschoßzonen vergessen, lässt sich das nachträglich nicht mehr ändern. Der öffentliche Raum verödet und wird zum bloßen Transitort – zu sehen etwa in der Umgebung des Hauptbahnhofs.
Hohe, belebte Erdgeschoßzonen lassen sich auch im Neubau verwirklichen. Ursprünglich sollte auch das Neue Landgut vielseitig nutzbare Erdgeschoße bekommen. Doch davon war im aktuellen Plan nicht mehr allzu viel zu sehen. Eine Mindesthöhe für das Parterre und Bestimmungen zur Nutzung (z. B. für Geschäfte, Lokale) gibt es nicht. Die Verödung des öffentlichen Raums und eine u. U. mangelhafte Versorgung der Bewohner drohen.
Keine Hochhäuser: Ungenutztes Potential in bester Lage?
Der Hauptbahnhof ist umgeben von Hochhäusern. Auch wenn ÖBB-Hauptquartier und das Bürohaus Icon (je 88 Meter hoch) sicher keine Wolkenkratzer sind, zeigt die Stadt Wien doch, dass an zentralen Lagen auch hohe Gebäude zulässig sein können.
Anders ist das am Neuen Landgut, wo kein einziges Hochhaus in Planung ist. Daraus folgt letztlich, dass die hier nicht gebauten Flächen quasi anderswo entstehen werden. In Summe wird also mehr Boden verbraucht und u. U. sogar der PKW-Verkehr gefördert, denn nicht jeder Bauplatz ist öffentlich so gut angebunden wie das Neue Landgut.
Auch wenig verständlich: Andernorts in Favoriten (am Laaer Berg) durfte ein 110 Meter hohes Hochhaus errichtet werden, obwohl es dort keine U-Bahn, keine S-Bahn und keine Straßenbahn in der Nähe gibt. Hingegen untersagt der Entwurf für das Neue Landgut ausdrücklich den Bau von Hochhäusern – trotz exzellenter öffentlicher Verkehrsanbindung. Siehe Karte unten.
Neues Landgut vs. Laaer Berg: Per pedes zu den Öffis
Öffentlicher Raum: Straßen, Lärm, Asphalt
Überbreite Straßen als Barriere
Das Neue Landgut ist umgeben von Bahngleisen und breiten Straßen. Und die breiten Die Straßen werden künftig noch breiter. Die Laxenburger Straße soll sogar eine neue Fahrspur für den PKW-Verkehr samt neuen Parkplätzen bekommen (aber auch eine eigene Spur für Radfahrer). Die Folgen:
- Durch die breiteren Straßen wird das neue Viertel vom übrigen Bezirk abgeschottet, besonders für Fußgänger.
- Breite Straßen laden zu schnellem Fahren ein. Mehr Lärm und erhöhte Unfallgefahr sind die Folge.
Einerseits gibt die Stadt Wien vor, Rad-, Fußgänger- und öffentlichen Verkehr zu fördern. Andererseits wird in der Praxis oft der motorisierte Individualverkehr bevorzugt. Wie passt das zusammen?
Schlecht für die Ohren: Gesundheitsgefahr Lärm
Es ist laut im nördlichen Favoriten. Gemäß der offiziellen Lärmkarte werden in der Laxenburger Straße die höchsten Pegel erreicht (über 75 Dezibel). Über 15.000 Fahrzeuge brettern Tag für Tag durch die breite Straße, die den Gürtel mit dem Wiener Umland verbindet. Zugleich reiht sich hier Wohnhaus an Wohnhaus.
Die WHO-Grenzwerte für Wohngebiete (55 Dezibel) werden deutlich überschritten. Mit der Verbreiterung der Laxenburger Straße werden Verkehr und Lärm wohl noch zunehmen („induzierter Verkehr“).
Warum nicht Tempo 30?
Obwohl es sich mehrheitlich um ein Wohngebiet handelt und obwohl Lärm gesundheitsschädlich ist, gilt in der Umgebung kein entsprechend reduziertes Tempo. Dabei hat Tempo 30 viele Vorteile:
- Deutlich weniger Lärm
- Weniger Gefahr durch Unfälle
- Flüssigerer Verkehr
- Positive Effekte für den öffentlichen Raum (Geschäfte und Lokale)
- Kostengünstige Umsetzung
Ist eine Absenkung der Fahrgeschwindigkeit auch in der Laxenburger Straße realistisch? Während Tempo 30 in einigen Bezirken auf starke Ablehnung gestoßen ist (z.B. Praterstraße im 2. Bezirk), ging es andernorts ganz schnell: Nach einer Initiative von Anrainern setzte der 9. Bezirk Tempo 30 in der gesamten Hörlgasse durch.
Da die Laxenburger Straße zum höherrangigen Verkehrsnetz gehört, wird es wahrscheinlich nicht so einfach, hier ein niedrigeres Tempo durchzusetzen. Doch könnte wenigstens eine Debatte darüber angestoßen werden, wie langfristig mit stark befahrenen Straßen im dichtbesiedelten Raum umgegangen werden soll.
Auf Hitze gehen: Dunkler Bodenbelag
Die Planer bei der Stadt Wien wissen schon lange um die Probleme von dunklem Asphalt:
Der Einsatz von hellen und reflektierenden Oberflächenmaterialien (…) ist zu fördern. Besonders der in Wien häufig anzutreffende Gussasphalt führt zu einer ungünstigen lokalen (…) Überhitzung und sollte (…) vermieden werden.
Trotzdem wird immer noch auf fast allen neuen Gehsteigen dunkler Asphalt verlegt, selbst auf prominenten Plätzen wie dem Ballhausplatz und teilweise sogar in der Seestadt Aspern. Darunter leidet auch die Optik. Ob auch die Gehsteige um das Neue Landgut wieder asphaltiert werden?
Warum nicht helle Platten bzw. Pflastersteine zum neuen Standard machen? Warum nicht die Gehsteigverordnung ändern? Der öffentliche Raum könnte so schön sein.
Wer wird hier wohnen?
Das Neue Landgut ist eines der letzten Stadtentwicklungsgebiete in zentraler Lage und eine der letzten noch unbebauten Flächen in direkter Nähe zum Hauptbahnhof. Die Stadt Wien möchte das neue Viertel überwiegend für Wohnraum nutzen. Flexible und nutzungsoffene Gebäude mit hohen Räumen à la Gründerzeit soll es nicht geben.
Nachdem also Wohnen das Ziel ist, wird es sinnvoll sein, auch dafür zu sorgen, dass möglichst viele Menschen hier leistbaren Wohnraum finden. Gerade dahingehend ist der Plan problematisch:
- Es werden weniger leistbare Wohnungen errichtet, als im Gesetz von 2018/2019 angekündigt.
- Schutz vor kommerzieller Zimmervermietung an Touristen gibt es nicht.
Unleistbares Ziel: Weniger sozialer Wohnbau als versprochen
2019 hat die damalige rot-grüne Stadtregierung ein wohl europaweit einzigartiges Gesetz für mehr leistbare Wohnungen verabschiedet:
Die Stadt Wien hat die Widmung „Geförderter Wohnbau“ beschlossen, die seit 21. März 2019 in Kraft ist. Überall, wo Flächen in Wohngebiet umgewandelt werden, sind nun zwei Drittel für den sozialen Wohnbau vorgesehen.
Was Wohnungssuchende freut, bedeutet für private Entwickler eine markante Einschränkung. Erstaunlich ist nun aber, dass der Zwei-Drittel-Anteil von sozialen Wohnungen am Neuen Landgut nicht kommt. Stattdessen sollen nur die Hälfte aller Wohnungen „gefördert“ sein – und das, obwohl die ÖBB und die Stadt Wien das Areal gemeinsam entwickeln.
Im Beschluss der Stadtentwicklungskommission vom Februar 2019 sind für das Plangebiet mit Ausnahme der Bereiche Laxenburger Straße und Bildungscampus mindestens 50 % gefördertes Wohnen vorgesehen. Dieser Wert liegt unter dem in den Planungsgrundlagen zur Widmung »Gebiete für geförderten Wohnbau« vorgesehenen Standardanteil von zwei Dritteln.
In der Stellungnahme an die zuständigen Politiker und Magistrate machte der Verfasser von WienSchauen den Vorschlag, den Anteil von gefördertem Wohnbau auf zwei Drittel zu heben. Ohne Erfolg.
Minihotellerie im Anmarsch?
Viele Städte haben der privaten gewerblichen Zimmervermietung den Kampf angesagt. Airbnb und co sind hierzulande zwar noch nicht so verbreitet wie in Tourismus-Hotspots wie Barcelona und Paris, aber auch in Wien werden immer mehr Wohnungen und z. T. ganze Wohnhäuser ausschließlich an Urlauber vermietet.
Läuft dieses Geschäftsmodell in großem Maßstab, kann es zu Problemen kommen: Das Wohnungsangebot sinkt, da Vermietung an Touristen lukrativer ist. Den Hotels fehlen in der Folge die Einnahmen.
Für die Zimmervermietung an Touristen besonders hoch im Kurs sind zentrumsnahe Lagen und Gegenden um Bahnhöfe. Genau das trifft auf das Neue Landgut zu.
Die Hälfte der Wohnungen am Neuen Landgut ist gefördert, wodurch kommerzielle Vermietung an Touristen illegal ist. Bleiben also noch die übrigen 50%. In diesen 50% wäre die Vermietung an Touristen ohne weiteres möglich, denn eine Wohnzone ist im Entwurf nicht vorgesehen. Nur in Wohnzonen ist diese Art der Kurzzeitvermietung verboten.
Die entscheidende Frage ist: Warum beschließt die Stadtregierung 2019 ein Gesetz, um Airbnb und co in Wohnzonen zu verbieten, wenn sie nur ein Jahr später solche Wohnzonen in einem künftig extrem begehrten Viertel nicht einrichtet? Wie soll das Gesetz so zu Anwendung kommen?
Es hätte auch anders gehen können
Der Verfasser von WienSchauen hat sich mit einer Stellungnahme an die zuständigen Politiker und Behörden gewandt. Alle in diesem Artikel angesprochenen Punkte waren darin enthalten. Zu Änderungen ist es aber letztlich nicht gekommen. Dabei hätte es so viele Möglichkeiten gegeben, den Plan zu verbessern:
- Altes erhalten: Schutzzone für die historischen Hallen, Ankauf durch die Stadt Wien
- Neues Zentrum: Nutzung der historischen Hallen u. a. für Kunst, Kultur und Gastronomie
- Grätzl mit Charme: Klinker/Backstein als gemeinsames gestalterisches Element für alle Neubauten
- Schönes Wohnhaus: Monotonie des geplanten Gebäudes an der Laxenburger Straße verhindern
- Lebendiges Viertel: hohe, flexible Erdgeschoßzonen
- Landmark: schmales Hochhaus am nordöstlichsten Bauplatz
- Zusammenwachsen statt trennen: Laxenburger Straße nicht noch breiter machen!
- Gut für die Ohren & sicher unterwegs: Tempo 30 auf allen Straßen der Umgebung
- Cool bleiben: Helle Pflastersteine statt dunklem Asphalt für alle Gehsteige
- Günstig wohnen: Zwei Drittel aller Wohnungen gefördert/leistbar
- Keine Hotels: abschnittsweise Einrichtung einer Wohnzone, um Airbnb & co zu bremsen
Die Initiative Denkmalschutz kritisierte das gesamte Procedere der Planung und Umwidmung auf diese Weise (v. a. bezogen auf die Abrisse und die fehlende Schutzzone):
Durch die jahrelangen Vorplanungen für das Areal (…) wurde ein Fait accompli [vollendete Tatsache, Anm.] geschaffen, und damit quasi die öffentliche Auflage Änderung des Flächenwidmungs- und Bebauungsplanes für die interessierte Bevölkerung sowie NGOs ad absurdum geführt, zumal die öffentliche Auflage nicht am Ende, sondern am Anfang des Planungsprozesses erfolgen soll und ergebnisoffen sein muss.
Andernfalls muss sie als eine sinnlose Beschäftigungstherapie gutgläubiger Bürger betrachtet werden. Weiters sind alle im Zeitpunkt der öffentlichen Auflage vorhandenen Unterlagen der Behörde mit wesentlichen Entscheidungen/Stellungnahmen/Gutachten zum Plangebiet zur Einsichtnahme aufzulegen, da sie den Planungsprozess maßgeblich beeinflussen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten zumeist weder im Erläuterungsbericht noch sonst wo nachzulesen sind.
Parteien in Favoriten hätten Verbesserungen fordern können
Die Parteien in den Bezirken haben bei neuen Bebauungsplänen auch ein gewisses Mitspracherecht. Entwürfe können angenommen oder angelehnt, Änderungen gefordert werden.
Sowohl Bezirksvorstehung (SPÖ) als auch alle Parteien im Bezirk haben die Stellungnahme mit Hinweisen auf die Schwächen im Entwurf erhalten. Konsequenzen hatte das nicht. Der Planentwurf wurde einstimmig angenommen (siehe Protokoll).
Planungsressort hat keine Überarbeitung eingeleitet
Die Behörden (Magistratsabteilung 21) und das Planungsressort im Rathaus – zu der Zeit unter Vizebürgermeisterin Birgit Hebein (Grüne) – hätten den Plan noch einmal überarbeitet können. Doch das ist nicht geschehen.
Plan wird ohne Debatte im Gemeinderat beschlossen
Im September 2020 wurde über den Plan im Wiener Gemeinderat abgestimmt. Es kam zu keiner einzigen Wortmeldung (siehe Protokoll). Wie viele Mandatare haben sich mit dem Plan wohl wirklich näher beschäftigt?
Seit Oktober 2020 ist der Bebauungsplan für das Neue Landgut rechtlich gültig (siehe hier). WienSchauen wird die Entwicklungen am Areal verfolgen. Ob sich die Befürchtungen, die in diesem Artikel geäußert werden, bewahrheiten?
Kontakte zu Stadt & Politik
- SPÖ: kontakt@spw.at, Tel. +43 1 535 35 35
- ÖVP: info@wien.oevp.at, Tel. +43 1 51543 200
- Die Grünen: landesbuero.wien@gruene.at, Tel. +43 1 52125
- NEOS: wien@neos.eu, Tel. +43 1 522 5000 31
- FPÖ: ombudsstelle@fpoe-wien.at, Tel. +43 1 4000 81797
(Die Reihung der Parteien orientiert sich an der Anzahl der Mandate im November 2020.)
Verfall und Abrisse verhindern: Gemeinsam gegen die Zerstörung! (Anleitung mit Infos und Kontaktdaten)
Quellen und weitere Infos
- Stellungnahme der Initiative Denkmalschutz zur Umwidmung und zum Abriss von Bestandsgebäuden: initiative-denkmalschutz.at/stellungnahme/laxenburger-strasse-wien-stellungnahme-zu-eisenbahn-hallen-planentwurf-8296/
- Artikel von Reinhard Seiß in der Wiener Zeitung (Februar 2020): wienerzeitung.at/nachrichten/chronik/wien/2049268-Wie-aus-Wien-eine-Allerweltstadt-wird.html
- In der Tiroler Gemeinde Alpbach gibt es genaue gestalterische Vorschriften, wie sich neue Gebäude in den Bestand einfügen müssen: alpbach.tirol.gv.at/system/web/GetDocument.ashx?fileId=985733&t2=1583264113&ncd=1
- Auf breiteren Straßen wird häufig schneller gefahren als erlaubt: wien.orf.at/stories/3033790/
- Zu den Auswirkungen von Lärm auf die Gesundheit: laerminfo.at/ueberlaerm/laermwirkung.html
- Die WHO-Grenzwerte für Lärm sind 55 dB tagsüber und 45 dB bei Nacht.
- Zu den Vorteilen von Tempo 30 siehe diesen Artikel im Standard und laerminfo.at
- Zum Thema Tempo 30 in der Praterstraße: Die Presse, orf.at
- Laut Verkehrszählung von 2015 (S. 28) sind in der Laxenburger Straße beim Südtiroler Platz täglich über 15.000 Fahrzeuge unterwegs, stadtauswärts bei der Raxstraße sogar über 22.000.
- Das Zitat zum dunklen Asphalt ist dem Strategieplan Urban Heat Islands entnommen.
- Alle Karten und Satellitenfotos, die den Grafiken in diesem Artikel zugrundeliegen, sind ©ViennaGIS.
Dieser Artikel wurde im April 2020 veröffentlicht und im November 2020 aktualisiert.
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